Freitag, 27. Juli 2001
Der junge Samuel Beckett auf Reisen in Deutschland 1936–1937.
[Aus der Website der Frankfurter Rundschau]
Copyright © Frankfurter Rundschau 2001. Dokument erstellt am 27.07.2001 um 21:19:13 Uhr. Erscheinungsdatum 28.07.2001
Von James Knowlson
Als Samuel Beckett im Oktober 1936 nach Deutschland reiste, war er als Schriftsteller nahezu unbekannt. Der junge Mann hielt sich ein halbes Jahr hier auf und kam viel herum: Er besuchte Hamburg, Berlin, Dresden und München und machte zwischendurch kürzere Stippvisiten in kleinere Städte. In sein Tagebuch notierte er, dass dies eher eine Reise „weg von“, als „hin zu“ sei. Und es ist tatsächlich anzunehmen, dass er vor massiven Problemen davonlief: vor der komplizierten Beziehung zur Mutter, einem missglückten Annäherungsversuch an eine junge Amerikanerin sowie der Affaire mit einer verheirateten Frau. Auch seine Karriere als Schriftsteller schien ins Leere zu laufen.
Dass er sich gerade Deutschland als Reiseziel aussuchte, mag verwundern. Immerhin war dieses Land Mitte der dreißiger Jahre nicht gerade ein beliebtes Reiseziel für ausländische Künstler und Intellektuelle. Die europäische Presse beobachtete das nationalsozialistische Regime kritisch und so waren Beckett die Repressalien gegen jüdische Bürger durchaus bekannt. Möglicherweise hatte er sich - wie viele Ausländer - von der Toleranzpropaganda im Umfeld der Olympischen Spiele 1936 täuschen lassen. Die positiven Facetten in Becketts Deutschlandbild gingen jedoch vor allem auf persönliche Kontakte zurück: Seit seinen frühen Zwanzigern hatte er immer wieder in Kassel die Ferien verbracht, wo Peggy Sinclair, seine Kusine und erste Liebe, mit ihrer Familie einige Jahre lebte. Zudem brachte der junge Literaturwissenschaftler sich selbst Deutsch bei, um die größten Schriftsteller des Landes auch im Original lesen zu können. Wenn also ein Hauch Nostalgie einer der Beweggründe für seine Reise gewesen sein mag, so war sie doch hauptsächlich als Wallfahrt zu den Museen gedacht. Beckett interessierte sich auch sehr für Kunst und da Deutschlands Sammlungen zu den wichtigsten Europas gehörten, lag ihm eine Museumsreise sehr am Herzen. Er musste dies schnell tun, denn wie die Dinge 1936 politisch lagen, war es sehr zweifelhaft, ob dies noch sehr viel länger möglich sein würde. „Sie müssen bald kämpfen oder platzen“, schrieb er in sein Tagebuch, nachdem er die Übertragung einiger, wie er es nannte, „Gehirnschlags“-Reden von Hitler und Goebbels im Radio gehört hatte.Becketts Deutschlandaufenthalt verlief für den jungen Mann nicht immer glatt: Wochenlang litt er an schmerzhaften, entzündlichen Infektionen. Zudem war es Winter und oft bitter kalt. Andere Reisende hätten an seiner Stelle vermutlich ihre Koffer gepackt und wären mit dem nächstbesten Zug nach Hause gefahren. Doch Beckett war unverwüstlich und fest entschlossen, die „Museums-Wallfahrt“ um jedem Preis fortsetzen. Er war dabei kein Durchschnittstourist. Da ihn die Kunstschätze der deutschen Städte sehr faszinierten, kaufte er nicht nur die Standardreiseführer - wie etwa den 1936 neu erschienenen Baedeker, Deutsches Reich - sondern auch kunstwissenschaftliche Publikationen.
Becketts Tagebucheintragungen zu den jeweiligen Architekten und Baumeistern sind kenntnisreich und seine Urteile so treffsicher wie speziell. Fast instinktiv zog er beispielsweise die strenge, schlichte Klarheit der Romanik dem ornamentalen Barock vor. Doch zeigen die Tagebücher Beckett durchaus auch als einen Mann mit offenem Geschmack und vielseitigen Interessen. Er hatte auch seine Favoriten unter den deutschen Städten. Von Hamburg war er beispielsweise spontan begeistert: „Die Stadt ist superb“, schrieb er an einen irischen Freund, „nichts ist älter als Mitte neunzehntes Jahrhundert. Ein herrlicher grüner Glockenturm (ein echter gaglia), der der Petrikirche. Und die pièces d'eaux der Alster sind Meisterwerke.“ Wie viele Besucher der Vorkriegszeit, spazierte er in Berlin begeistert an den historischen Gebäuden unter den Linden entlang bis zur Museumsinsel. „Ich fühle, wie schön es wäre, hier zu wohnen und auf die Spree zu schauen, das Schloss, den Dom“, schrieb er am 18. Dezember 1936 in sein Tagebuch. München und Nürnberg mochte er weniger, was seinen Briefen zufolge eindeutig auf die spürbar starke Präsenz der Nazi-Bewegung zurückzuführen ist. Bei seiner Ankunft in Dresden schrieb er: „Herrlicher erster Eindruck von Dresden, Gefühl von Freiheit und Raum“; er genoss seinen Aufenthalt, der sich gesellschaftlich überraschend hektisch gestaltete.
Nach Beckett war ich der erste, der seine deutschen Tagebücher las und sie beeindruckten mich in mehrerlei Hinsicht. Erstens, wegen der hier sichtbaren außergewöhnlichen intellektuellen Neugierde und des schier unstillbaren Wissensdursts: Beckett vermerkte noch das kleinste Detail der Skulpturen oder Keramiken, die er in der Sammlung des Berliner Pergamon- oder Tel Halaf Museums sah. Und kein Gemälde wurde vernachlässigt - es sei denn die „langweiligen“ Bildnisse ehrbarer Bürger aus dem 19. Jahrhundert. Becketts Notizenmachen war zwanghaft und fast umfassend.
Zum Zweiten überraschte mich Becketts emsige Geselligkeit in Deutschland: Da knüpfte einer, den man immer für schüchtern, einsam und reserviert gehalten hat, voller Elan und Begeisterung zahlreiche Kontakte zu Malern, Schriftstellern, Kunstsammlern und Kunsthändlern. Zudem enthüllen die Tagebücher auch deutlich den zukünftigen großen Schriftsteller: sein Talent, Analogien zwischen scheinbar unverwandten Dingen zu erkennen, wie auch seine ausgeprägte Sensibilität für den erlebten Augenblick - im Tiergarten fing er beispielsweise den Eindruck der auffliegenden Enten ein oder das Geräusch seiner Schritte, die durch das Herbstlaub raschelten; dann wieder die Farben einer Abendlandschaft.
Beim Lesen der Tagebücher verfestigte sich auch meine Überzeugung, dass die Klischees über den politisch desinteressierten Beckett falsch sind. Unmissverständlich ist beispielsweise sein Ekel vor der Behandlung der ihm bekannten jüdischen Maler. Die Begegnungen mit dieser Gruppe verfolgter Künstler - Willem Grimm und Karl Ballmer mochte er besonders - öffneten Beckett gewissermaßen die Augen. Sein Tagebuch beweist, wie sehr ihn rassistische Ausfälle und das ständige Herunterbeten des „nationalsozialistischen Evangeliums“, wie er es nannte, verärgerte. Diese Kontakte und die mit ihnen verbundenen Einblicke in das Leben der Menschen befreiten den jungen Beckett von seiner leichten Neigung zur narzisstischen Selbstbefangenheit. Zudem waren sie zweifelsohne der maßgebliche Impuls für seine politische Entscheidung, sich im besetzten Paris dem französischen Widerstand anzuschließen, obwohl er als Ire eigentlich „neutral“ war. Doch zu diesem Zeitpunkt war bereits Paul Léon verhaftet und in ein Konzentrationslager verschleppt worden - ein jüdischer Freund und die rechte Hand von James Joyce. So wusste Beckett also genau, dass die Lage sich verschärft hatte und im praktischen Leben für die Betroffenen mehr bedeutete als die „bloße“ Einschränkung der persönlichen Freiheit: „Man konnte nicht einfach zusehen und die Hände in den Schoß legen“, sagte er einmal zu mir. Erinnerungen seines Deutschlandbesuchs von 1936 / 37 sind noch Jahrzehnte später in Becketts Werk zu finden. Mal sind es Anspielungen auf tatsächliche Begebenheiten und konkrete Orte, mal auf Vertreter der deutschen Literatur oder Kunst. Solche Erinnerungen sind leicht zu identifizieren, wie etwa das Kasseler Herkulesdenkmal, das in Becketts ersten, postum erschienenen Roman Traum von mehr bis minder schönen Frauen auftaucht. Oder ein Abschnitt in der Novelle Erste Liebe, der fast wortwörtlich eine Tagebucheintragung seines Besuchs des berühmten Ohlsdorfer Friedhofs übernimmt. Nicht ganz so leicht zu erkennen, da ohne Ortsangaben, ist die Quelle einer Szene aus Das Beruhigungsmittel, in der das Schwindelgefühl beim Besteigen eines Kirchturms beschrieben wird: „Der, ich weiß nicht wie, vielleicht durch Luftlöcher schwach beleuchteten Treppe folge ich keuchend bis zu der vorspringenden Plattform, auf der sie endete, und die, nach der Leere zu mit einer Brüstung versehen, um eine glatte, runde Mauer führte, die mit einer kleinen Kuppel gekrönt war, aus Blei oder grün gewordenem Kupfer, uff, wenn das nur klar ist.“ Genauso fühlte sich der Autor 1936 auf dem Glockenturms der St. Andreaskirche in Braunschweig.
Beckett bewunderte auch die deutsche Literatur und war mit dem Werk der wichtigsten Philosophen bestens vertraut. Im Oktober 1936 besuchte er Klopstocks Grab im Hamburger Stadtteil Altona. Auf diesen Besuch spielt er 1961 in Wie es ist an: „geboren in Potsdam wo ebenfalls unter anderem Klopstock lebte und wirkte wenngleich in Altona begraben der Schatten den er wirft.“
Mit gemischten Gefühlen hatte er vor seiner Abreise Goethes Faust gelesen und beschäftigte sich während seines Aufenthalts mit Dichtung und Wahrheit. Die junge Frau in Erste Liebe singt Mignons Lied über die Zitronenbäume aus Wilhelm Meisters Lehrjahre. In Berlin sah und las er Schillers Maria Stuart und schrieb sich ins Tagebuch, Schiller habe „einen weit inhumaneren Stil als Goethe, eine sentimentale Maschine, oder ist es eine naive?“
Im Letzen Band heißt es an einer Stelle: „Sah mir die Augen aus dem Kopf, indem ich wieder einmal Effi las, eine Seite pro Tag, wieder einmal unter Tränen.“ Ich habe Beckett gefragt, ob nicht Peggy Sinclair für Fontanes Effie Briest geschwärmt habe. Worauf er sehr bestimmt antwortete, er sei es, der diesen Roman so bewundere.
Einige von Becketts frühen Gedichten, vor allem „Da tagte es“, enthüllen den Einfluss von Walther von der Vogelweides „alba“ und in Becketts letztem Prosastück Immer noch nicht mehr wird namentlich auf den Lyriker angespielt: „Zu diesem Zweck, da kein Stein da war, auf den er sich setzen konnte wie Walther und die Beine übereinanderschlagen, war es das beste was er tun konnte, auf der Stelle zu bleiben und stock-steif dazustehen“.
Beckett las Lessing und liebte auch die Gedichte von Hölderlin, Heine und Goethe, die er auswendig zitieren konnte. Doch auch die Lektüre von zeitgenössischen Autoren wie Ernst Wiechert, Paul Alverdes und Hermann Hesse regte ihn zum Überdenken der eigenen literarischen Position an. Über den Einfluss deutscher Philosophen auf Beckett ist viel geforscht worden: Man hat auf Kant, Schopenhauer, und neuerdings auf den Sprachphilosophen Fritz Mauthner hingewiesen. Dass Beckett aber von Leibniz den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung seines eigenen Weltbildes erhielt, hat man beinahe übersehen. Dabei hinterließ die Monadologie einen derart starken Eindruck auf den jungen Autor, dass er sofort eine Verbindung zu seinem eigenen Werk herstellte. Noch Jahre später beschwört der Roman Molloy Leibniz’ Vorstellung der prästabilierten Harmonie und Wie es ist greift die Idee eines gerechten Gottes an, wie die der besten aller möglichen Welten.
Während seines kurzen Aufenthalts in Hannover, erwies Beckett dem Philosophen seine Reverenz, indem er das Leibnizhaus besuchte - so wie er sich in Weimar die Häuser von Goethe und Schiller ansah. Während meiner Recherche über Becketts Lektüre der modernen Philosophie, fand ich heraus, dass er fast alles aus einer bisher unbekannten deutschen Quelle lernte: aus Windelbands Geschichte der Philosophie.Doch Becketts intensive Streifzüge durch die großen deutschen Kunstsammlungen und seine Gespräche mit zeitgenössischen Künstlern beeinflussten vor allem seine spätere Arbeit als Dramatiker. So schrieb er 1937 in einem Brief an Tom MacGreevy über den Besuch der alten Pinakothek in München: „Ich habe mich auch sehr für die steifbeinigen Kreuzigungen von Cranach interessiert und die von Burgkmeier, mit den Schächern im fast abgewandten Profil. Idee für einen Christus, der mit dem Rücken zum Zuschauer gekreuzigt ist.“ Und tatsächlich arbeitete er in den fünfziger Jahren an einem später verworfenen Stück, in dem ein am Kreuz hängender Mann gezeigt wird - wenn auch nicht mir dem Rücken zum Publikum. Folglich könnte auch die Bilderwelt von Becketts existierenden Theaterstücken auf die Gemälde der Alten Meister zurückgehen, die er teilweise in Deutschland zum ersten Mal sah.So geht etwa Warten auf Godot, nach Aussagen des Autors, auf den von ihm in Dresden gesehenen Caspar David Friedrich, „Zwei Männer betrachten den Mond“, zurück. Doch ist dies nur die Spitze des Eisbergs, wie ich in meiner Biografie ausgeführt habe. Denn, wenn es uns möglich wäre, Röntgenaufnahmen von Becketts eigenen, verstörend modernen Bildern zu machen, würden wir die geisterhaften Spuren der Alten Meister entdecken, die unter der Oberfläche verborgen liegen. Es wäre ja auch wirklich seltsam, wenn Becketts hervorragende Kenntnis der Malerei nicht in Ansätzen überlebt hätte, als er seine eigenen Bilder für die Bühne schuf und dabei (mal bewusst, mal völlig unbewusst) Einfluss auf seine eigenen verblüffenden Theaterbilder ausgeübt hätte.Die deutschen Tagebücher enthalten also Beschreibungen von Gemälden, die später durchaus Becketts eigene Bildvorstellungen geprägt haben könnten. Es ist ein komplexes Thema und ich werde nur drei besonders einflussreiche Bildnisse genauer betrachten.
Giorgiones Selbstbildnis im Braunschweiger Herzog-Anton-Ulrich Museum berührte ihn stärker als andere Bilder. Er nannte es „ein Licht in der Dunkelheit“ und hängte eine Reproduktion davon über den Kaminsims seines Berliner Zimmers. Beckett hatte ein auffallend gutes visuelles Gedächtnis, so dass dieses spezielle Gemälde durchaus seine späten Theaterbilder inspiriert haben könnte, die sich teilweise durch eine ähnlich starke Intensität und „tiefe Verschwiegenheit“ auszeichnen. In der Haltung der May aus Tritte etwa, klingt Antonello di Messinas Verkündigung nach - „Kopf und Schultern, herrlich. Mit dem entgeisterten Blick, verärgerte Putze“. Und als er das Stück selbst inszenierte, legte Beckett Wert darauf, dass Billie Whitelaw in einer vergleichbaren Geste die Hände um den eigenen Körper klammert. Ohio Impromptu schließlich weist eine visuelle Ähnlichkeit zu einigen Bildern Rembrandts oder Franz Hals’ auf, die er aus den deutschen Sammlungen kannte.
Trotz dieser Anklänge muss auf die Eigenständigkeit von Becketts Bildern hingewiesen werden. Denn bei aller Nähe zu einigen Werken der Alten Meister, sind diese Theaterbilder doch verblüffend modern. Einige der von Beckett auf dem Theater verwandten Techniken - die Verzerrung, Fragmentierung, und Entfremdung - können denn auch durchaus auf Tendenzen in der modernen Malerei zurückverfolgt werden. Schon bei seinem ersten Besuch in Kassel war Beckett von seinem Onkel, dem Kunsthändler William Sinclair an die zeitgenössische deutsche Kunst herangeführt worden und er hatte sich zudem 1930 mit dem irischen Maler Jack B. Yeats angefreundet.
Doch erst auf seiner Deutschlandreise lernte Beckett die moderne Kunst genauer kennen: in den Bildern der Brücke und des Blauen Reiter, die ihm außerordentlich gut gefielen. Bis heute ist fast nichts über seine Bewunderung von Malern wie Schmidt-Rottluff, Feininger, Marc, Heckel, Kirchner, Munch und Nolde sowie ihren möglichen Einfluss auf seine dramatische Bilderwelt geschrieben worden.
Auf seiner deutschen Reise war es Beckett noch möglich, solche Arbeiten zu sehen, die das nationalsozialistische Regime als „entartet“ bezeichnete. Doch verschwanden die Bilder buchstäblich von den Wänden der Museen, während er eine Stadt nach der anderen bereiste. Sie wurden in Kellern und Magazinen verstaut, zu denen man nur mit einer Sondererlaubnis Zutritt bekam, bevor sie endgültig verkauft oder zerstört wurden. So war etwa die moderne Abteilung des Berliner Kronprinzenpalais im Oktober 1936 geschlossen worden, kurz bevor Beckett, aus Hamburg und Braunschweig kommend, hier eintraf. In Hamburg war er mit ziemlicher Sicherheit der letzte Ausländer, der die moderne Sammlung zu sehen bekam und in Halle konnte er zwar eine wichtige Ausstellung „entarteter Kunst“ besuchen, musste allerdings extra dafür bezahlen sowie Namen und Adresse in einem „Gästebuch“ hinterlassen. Er hatte auch Zugang zu modernen Privatsammlungen, wie etwa der von Rose Schapire, von Max Sauerlandts Witwe und von Hildebrand Gurlitt in Hamburg oder der von Ida Bienert in Dresden. Von heute aus gesehen ist es schwer einzuschätzen, wie einflussreich einige dieser Sammler damals waren und unter welchen Repressalien sie zu leiden hatten. Aber soviel ist klar: Es war riskant, sich mit moderner Kunst zu beschäftigen. Im Umgang mit Künstlern, Kunsthändlern und Sammlern erfuhr Beckett aus nächster Nähe, wie der Alltag derjenigen aussah, die vom Naziregime zur „Unperson“ erklärt worden waren. Für die Maler bedeutete es, dass sie, wie etwa der Hamburger Karl Kluth, nur bei Gurlitt ausstellen konnten oder wie Greta Wöhlwill zu einer Ausstellung nur Juden einladen und nur an Juden verkaufen durften. Karl Ballmers Privatbibliothek wurde konfisziert und er konnte seine Arbeiten schon seit 1933 nicht mehr öffentlich zeigen. 1938 kehrte er schließlich in sein Geburtsland, die Schweiz zurück. Eduard Bargheer hatte große „Schwierigkeiten mit den Behörden, Anfragen von allen Seiten, seine Arbeiten abzuhängen, Strom von Kontrolleuren im Atelier usw.“ 1939 floh Rose Schapire mit ihrer Schmidt-Rottluff-Sammlung nach England, wo einige der Bilder heute noch in der Londoner Tate Gallery zu sehen sind.
Der Mund in Nicht Ich wurde mit Edward Munchs Der Schrei verglichen und Becketts deutsches Tagebuch liefert genügend Belege seiner Begeisterung für bestimmte Bilder Munchs. Die May aus Tritte könnte ebenso sehr auf Munch (und Francis Bacon) zurückgehen wie auf Antonello di Messina. Und wenn der in Draufsicht gezeigte Kopf in Damals William Blakes Bildern des Hiob oder Gottvater einiges verdankt - wovon ich überzeugt bin -, dann ist doch die Perspektive so ungewöhnlich wie wir es aus einigen expressionistischen Bildern kennen. Zudem wird Becketts Bild von einem fragmentierten Text „untermalt“, der eine verstörende Geschichte von Einsamkeit und Entfremdung erzählt.
Doch als jemand, der Becketts Stücke immer noch mit neuen Augen betrachtet - nachdem er von seiner tiefen Kenntnis der Malerei erfahren hat - kommt es mir vor, als hätten wir Forscher die visuellen Inspirationsquellen seiner Arbeit doch zu lange unterschätzt.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde Beckett mit Warten auf Godot auch in Deutschland berühmt. Und es dauerte nicht lange, bis ihn er sich wieder in Deutschland aufhielt und neue Freundschaften mit Deutschen knüpfte. Mit Erika und Elmar Tophoven, die in Paris lebten und seine ständigen Übersetzer wurden. Mit Albert Bessler und Boreslaw Barlog vom Schillertheater Berlin, die Beckett in den sechziger Jahren einluden, bei seinen Stücken selbst Regie zu führen. Dann Siegfried Unseld, sein Verleger bei Suhrkamp und Reinhard Müller-Freienfels, der es Beckett ermöglichte, seine Fernsehstücke beim SDR in Stuttgart zu inszenieren - womit er den Autor auch zur Konzeption weiterer Fernsehspiele anregte. Schließlich Walter Asmus, sein Regieassistent am Schillertheater und viele deutsche Schauspielerinnen und Schauspieler, mit denen er sehr gerne zusammen arbeitete.
Ich weiß noch, wie ich Beckett einmal im Fernsehstudio in Ealing traf, wo er dem BBC-Regisseur bei der Produktion seiner Fernsehstücke Shades (Schatten) half. Die Techniker standen teetrinkend im Studio herum und es passierte rein gar nichts - obwohl die Produktion zeitlich im Verzug waren. Ich fragte Beckett, was denn los sei, und er meinte trocken: „Das ist die gewerkschaftlich vorgeschriebene englische Teepause. In Deutschland könnte das nicht passieren. Da versucht immer jeder, seine Bestes zu geben.“ Vielleicht hat er dort Glück gehabt oder er wurde als Prominenter bevorzugt behandelt. Aber seine Bemerkung war ein deutlicher Beweis dafür, dass er viel lieber in Deutschland inszenierte als in England. Und wenn er in London, Paris oder sonstwo ins Konzert ging, um Schubert, Schumann oder Brahms zu hören (am liebsten die Lieder), dann fühlte er sich, soweit es ihm möglich war, wie im siebenten Himmel.
Von James Knowlson erschien jüngst im Suhrkamp Verlag Samuel Beckett. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzte Gaby Hartel.