Kleine Geschichtsphilosophie | Die gekrachte Schublade – 24. Juni 2025 ![]() |
Ich berichte von einem Enthusiasten des Schönen. Dieser Enthusiast hat sich endgültig die unwiderrufliche Überzeugung gebildet: im ganzen Erdenrund gibt es Wirkliches doch nur im Anschauen von Kunst. Der gesamte übrige Weltinhalt, einschließlich des ersten, zweiten usf. Weltkrieges sei dagegen doch nur Traum. Dieser skurrile Mann und Zeitgenosse ist nichts weniger als ein schwärmerischer „Idealist“. Nichts ist ihm verdächtiger als die idealen Redensarten der Metaphysiker und Theologen, die ja ebenfalls das Wirkliche erfragen – und dabei die Behauptung aufstellen, das Wirkliche sei deswegen wirklich, weil es Schöpfung des Schöpfers sei. Sind denn diese Theologen bildende Künstler, dass sie frank von Schöpfung reden? Schöpfung – ich denke darüber müsste man sich zunächst einmal im Atelier mit dem bildenden Künstler unterhalten, man müsste in Erfahrung bringen, ob der Begriff der Schöpfung einen greifbaren Inhalt habe, also mehr sei als ein Requisit verstaubter Mythologie – – –
Im Atelier fand unser skurrile Zeitgenosse den Maler gesprächig. Der Maler ironisierte und spottete:
„Sie machen sich ja keinen Begriff von der Stupidität des Denkens unseres ‘wissenschaftlichen’ Zeitalters. Da hängt mein Bild an der Atelierwand. Befinden Sie sich wissenschaftlich auf der Bildungshöhe der Zeit, so müssen Sie wissen: Da, auf der Bildoberfläche, gemäß den äußersten Errungenschaften einer schätzbaren Physik, spukt der elektromaterielle Lichtgott als Schöpfer. Er schmeißt Ihnen elektromagnetische Energien (sind es Wellen, sind es Korpuskel?) gegen Ihre werten Augen. Dieser Herrliche leidet nämlich von Aristoteles her an einem Geburtsfehler seiner Potenz als Schöpfer. Er ist die Ursache der sehbaren Welt. Aber der alte Aristoteles begriff noch nicht, dass die Welt nur dann ihre Ursache hat, wenn der Weltengott auf sein In-sich-selbst-sein verzichtet, damit er sich von außen mit den Augen seiner Menschenbrüder anschauen kann. Darum blickt der Menschen-Glaube auf den Resignierenden, auf den Lichtgott am Kreuz. Die Physiker aber sind durch ihren Beruf genötigt, es nicht mit dem Glauben, sondern mit dem Schauen zu halten. Dabei geraten sie in die Irre und Wirre. Da hängt also mein Bild an der Wand, und die Physiker sagen Ihnen, dass der physikomythologische Lichtgott Ihre werten Augen jetzt mit einem elektromagnetischen Bombardement heimsucht. ‘Lichtstrahlen’, als physikalische Gegenstände gedacht, ‘bewegen’ sich durch den Raum auf Ihre werten körperlichen Augen zu und ‘bewirken’ in Ihrem Auge, entsprechend der Wellenfrequenz Helligkeit, Dunkelheit und Farbe und – o Wunder der Wunder, außerdem ‘bewirken’ diese durch den Raum turnenden und ‘Lichtstrahlen’ benannten Gegenständlichkeiten auch noch dies, dass Sie mein Bild als Bild, als eine Menschendarstellung sehen. Einfach ein Mysterium, nicht wahr. Bedenken Sie doch: die verschiedene Frequenz der vom monströsen Lichtgott emittierten Energiewellen ‘bewirkt’ im Auge nicht nur Helles, Dunkles und Farbiges (was schließlich mit den theoretischen Voraussetzungen der Physiko-Mystik noch logisch vereinbar wäre), – nein, der Zauberer bringt das geradezu unglaubliche Wunder zustande, in Ihnen, der Sie ebenfalls ein physikalischer Gegenstand und Körper sind, das Erlebnis einer komplizierten Bildgestalt zu bewirken. Und nun sehen Sie also kraft Mysterium des Lichtgottes, kraft Gnade des physikomythologischen Zauberers mein Bild an der Wand, eine Menschendarstellung. Es kann in sämtlichen finsteren Zeiten des schwärzesten Aberglaubens keinen Aberglauben geben, der so lächerlich massiv wäre wie der Aberglaube der wegen ihrer technischen Leistungen schätzbaren modernen Physik. Die Theologen, die es auch mit dem Lichtgott zu tun haben ('Ich bin das Licht der Welt'), sind die reinen Waisenknaben gegenüber den mythologischen Zumutungen der Physiker. Beide indessen, die geistlichen Mythologen wie die Mythologen des elektromagnetischen Lichtgottes, verbergen nicht den gemeinsamen und einheitlichen Ursprung ihres Vermögens der Welt-Anschauung, beide huldigen der … verzeihen Sie, dass ich das Wort nicht ausspreche, ich habe es oben gebraucht, als ich mich über die Stupidität des Gedankens dieses Zeitalters räusperte. Und nun begreifen Sie auch, dass es an der Zürcher Universität zum eidgenössischen Handschlag und Friedensschluss der Fakultäten betreffs ‘Forschung und Glaube’ kommen musste, unter dem Segen ihres theologischen Rektors. Als Gleichrangige schlossen die Physikomythologen und die Mythologen des Kreuzes den zeitgemäßen Frieden, – denn die hohe Politik und der belangvolle ‘Staat’ bedürfen der Friedfertigkeit der Mythologenparteien. – Da hängt also mein Bild an der Wand. Lassen wir die Psychophysiologie und die edle ‘Erkenntnistheorie’ aus dem Spiel (das kann später nachgeholt werden) und bleiben wir bei der Sache. Was ereignet sich denn also, wenn ich, der Maler, mein an der Wand hängendes Bild sehe? Fassen Sie sich, denn ich werde Ihnen jetzt eine Paradoxie zumuten: Mein Bild an der Wand ist die Ursache, dass ‘Ich’ bin. Ich könnte die sämtlichen Möglichkeiten dieser Welt absolvieren, das Geborgensein bei einer Mutter, den Glauben an den Schöpfer, Liebe und Freundschaft – und würde nie im gleichen Grade meine Wirklichkeit erfahren wie als Beschauer meines Bildes. Dass ich mein Bild selbst ‘gemacht’ habe, ist ganz nebensächlich. Ich würde mein Bild ja niemals zu sehen bekommen, wenn ich nicht vergessen würde, dass ich der Macher bin, wenn ich nicht gerade mich vergessen würde. (Der mit den Kunst-Machern betriebene Genie- und Persönlichkeitskult ist denn auch nur ein ephemerer Bestandteil am Unterhaltungsprogramm eines vergänglichen Bourgeois-Zeitalters.) Der Macher und der Schöpfer sind auseinander zu halten. Der Macher bin ich, den Schöpfer empfange ich. Schöpfer ist man nicht in sich. Schöpfer heißt: Ich schaue mich von außen an, ich bin dabei, wenn ich als Geschöpf – meines Bildes – entstehe. Ein Schönes sehen ist immer ‘empfangen’, niemals ‘machen’. Das wäre also die kopernikanische Wendung im Atelier. Eine ziemliche Zumutung, mit Konsequenzen. Gesetzt, es hängt ein Bild Böcklins an der Wand. Was geschieht denn da beim Sehen des Bildes? Der Beschauer sagt etwa: ‘Ganz ein Böcklin!' Der Beschauer blickt auf ein ‘Ich’, das Böcklin heißt. Nein umgekehrt, der Beschauer wird, entsteht selbst als dieses Böcklin-Ich, er ist im selbstvergessenen Anschauen selbst Böcklin. Solcher Art ist die von der Kunst bewirkte Gemeinschaft unter Ich-Menschen. Mystik? Möglicherweise bedarf es zur Errichtung von Menschengemeinschaft außer der weltbewegenden Technik noch der Mystik, damit die heilsame Unterscheidung von ‘Machen’ und ‘Empfangen’ möglich werde.“ Soweit der Maler im Atelier.
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Es kann kein Zweifel sein, dass im Atelier nebenbei das Problem der – Geschichte gestellt ist. Wiederum sind es die theologi, die verkünden, die Weltgeschichte sei ein Geschöpf des Schöpfers. Daraufhin wollen wir die Geschichte besehen. Wiederum wird es darauf ankommen, das „Machen“ und das „Empfangen“ sachgerecht zu unterscheiden. Wir wollen von den landesüblichen Vorstellungen über unsere Schweizergeschichte ausgehen: Unsere Vorfahren, die alten Eidgenossen sind die Schöpfer der Eidgenossenschaft. Wir Heutigen vertiefen uns in die geschichtlichen Taten unserer Vorfahren, wir erziehen uns an den Helden der Geschichte zum rechten Leben in der Gegenwart. Unsere Kontinuität mit den eidgenössischen Vorfahren ist fraglos evident. Unser gegenwärtiges geschichtliches Leben ist gewissermaßen stets die wiederholende Aktivierung der Kraft von Morgarten, Sempach, St. Jakob usw. Indem wir Feste der Erinnerung feiern, schaffen wir die Reproduktion eines in der Vergangenheit liegenden Originals. So reproduzieren wir z. B. im Jahre 1944 das 500 Jahre alte Original des Geschehens bei St. Jakob an der Birs. Wenn es uns bei solchem landesüblichen Gehaben einfallen sollte, unsere eigenen kritischen Zuschauer zu sein, so würden wir unschwer bemerken, dass unsere Reproduktion einen sehr bestimmten Zweck verfolgt. Wir verfolgen den Zweck, uns einzureden, es bestehe eine Kontinuität, ein direkter Übergang vom Geschehen 1444 in unsere erlebte eigene Gegenwart. Der Träger dieser Kontinuität wäre etwa „das Eidgenössische“ oder „die geschichtliche Aufgabe unseres Volkes“. Wenn aber unser Witz munter ist, dann müssen wir diese vermeinte Kontinuität für fraglich halten. Gerade gegenüber dem Geschehen von 1444 bei St. Jakob, wo die Insubordination einen eidgenössischen Effekt erzielte, bemerken wir, wie die Annahme einer wirkenden Kontinuität mit ziemlich unbequemen Risiken verbunden ist, denn es wäre nicht unlogisch, die heutigen Saboteure des strikten eidgenössischen Befehls als die wahren Wiederholenden und Reproduzierenden des Originals von 1444 anzusehen – – –
Wir wollen die Feste feiernde volkstümliche Geschichtsphilosophie in Ehren halten – und dabei nicht übersehen, dass man oben auf der Hochburg des Wissens seit langem mit größtem Ernste dabei ist, sich von der Einfalt der landläufigen Geschichtsillusionen zu verabschieden. Über der Eingangspforte zur Burg des Wissens liest man die Inschrift: „Durch den Willen des Volkes“. Soll man also annehmen, das Volk wolle der Nutznießer der Gewissensproduktion der Forschung sein? Das Gewissen an der Universität oben muss die Geschichtsträume der Tiefe auf das äußerste beargwöhnen. Es kann Zufall sein – ich weiß es nicht –, dass bei eidgenössischen Festfeiern der Name Grisebach keine Rolle spielt. Wir besingen die Wacht am Gotthard. So man will kann man wissen, dass der Zürcher Philosoph Grisebach, als kritischer Beargwöhner europagängiger Geschichtsillusionen, so etwas wie ein granitener St. Gotthard im Reiche der abendländischen Philosophie ist, damit die geistigen Weltströme sich scheiden. Lasciate ogni speranza! das ist die granitene These des Philosophen Grisebach. Nichts als aufgeklärter Selbstbetrug sei die Annahme der Erinnernden, die erinnernde Reproduktion vergangener Geschichte verbürge eine Kontinuität mit dem Wirken in der Gegenwart. Es sei die überhebliche Annahme der Erinnernden, sie säßen dem Schöpfer der Geschichte im Herzen.
Die Helden und Führer, als personifizierte Erinnerungspotenz von Völkern, sind nicht die beauftragten Vollführer des Weltwillens, sie sind – Träumende. Es besteht zwischen dem Tun von vermeinten Führern und dem Weltwillen keine Identität des Wirkens, es besteht zwischen beiden ein Verhältnis der Diskontinuität. Aus der Erkenntnis dieser Diskontinuität frägt Grisebach nach einer wirklichen „Gegenwart“, die mehr als Traum ist. Die „Macher“ der Geschichte sind nicht die Miniaturausgabe des Schöpfers und Herrn der Weltgeschichte. Der Weltschöpfer ist nicht „innen“ in ihnen, er ist außen. Weltverständnis aus dem Ich-Innern ist Illusion, erzeugt höchstens Wahrheit, als ein einstimmiges System der Erinnerungen. Es geht aber um mehr als Wahrheit, es geht um Wirklichkeit. Wirklichkeit ereignet sich in unserem Begrenztwerden von außen. Der Anspruch des Andern, des andern Menschen an uns ist der einzige Ort, wo wir Begrenzung und damit Wirklichkeit erfahren. Dieser Ort ist der illusionsfreie menschliche Alltag. Im Anspruch des andern Menschen tritt uns – von außen – der wirkliche Gott entgegen. – Grisebachs Unterscheidung von „Innen“ und „Außen“ ist epochal. Die Wirklichkeit ist nicht die – von uns – ins Werk gesetzte Wahrheit (die Illusion von Kirchen); Wirklichkeit ist nicht auf Grund von Wahrheit intelligent auszudenken oder gar vorauszuprädizieren, Wirklichkeit gibt es nur als Zu-Fall von außen.
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Grisebach kommt vom Glauben her und fasst das Problem von Geschichte und Gegenwart als Ethiker, er frägt nach der ethischen Wirklichkeit. Hier wirkt noch die späte Erinnerung an Israel: „Du sollst dir von deinem Gotte kein Bildnis machen!“ Die aufs Schauen Angewiesenen dagegen werden nicht umhin können, das Wirkliche auch in der Geschichte als ein erscheinendes Schöne zu erfragen. „Wirklich“ schlechthin ist ihnen ja das Schöne. (Benedetto Croces Ästhetik taxiert bekanntlich das Schöne als das eigentlich Wirkliche.) Über das Schöne lässt sich ausmachen: Das Schöne, das per Zu-Fall von außen auftritt, ist nicht irgend ein Wiederholtes oder Erinnertes, nicht irgendein Reproduziertes (weswegen „naturalistische“ Kunst als Abbild der Natur ein Nonsens ist). Es gehört notwendig zum Auftreten des Schönen, dass es spontan, in reiner Gegenwart, wie aus dem Nichts entstehend als absolut Neues da ist. Das Schöne ist eine höchst besondere und einzigartige Art von Dasein. Das Schöne hat eine unbezweifelbare quasigöttliche Eigenschaft: es ist unhöflich. Stelle ich an ein Werk des Schönen die philosophische Wahrheitsfrage, d. h. frage ich „was ist das?“ oder „was stellt das dar?“, so erhalte ich vom Dasein des Schönen bildlich gesagt eine Ohrfeige. Hier gibt es überhaupt keine Fragen zu stellen. Hier wird angeschaut! Die Antwort auf jede mögliche Frage ist in der unmittelbaren Schau einfach vorweggenommen, die Antwort ergibt sich dem intellektuellen Gedanken nicht, sie muss angeschaut werden. Das Dasein des Schönen ist unhöflich, es schneidet mir meine Frage kurzweg ab. – Wir müssen uns jetzt bei den modernen Ästhetikern entschuldigen, dass wir sorglos und optimistisch den Namen und Begriff des Schönen in Gebrauch nehmen. Diese nämlich haben, seit sich die moderne Ästhetik „phänomenologisch“ orientierte, den Namen des Schönen kurzweg aus ihrem Vokabularium gestrichen. Wie es eine moderne Psychologie ohne Seele gibt, so gibt es also auch eine moderne Ästhetik ohne das Schöne. Die Gründe für das Gehaben dieser modernen Ästhetiker liegen auf der flachen Hand. Auch diese Ästhetiker sind, wie Grisebach, Teilhaber am großen Erschrecken über die Anmaßung der Ich-Philosophie, die ihr Subjekt mit dem Weltgeist identifiziert. Und nun verfallen sie in ihrem Erschrecken der Reaktion. Der fallite römische Priester Franz Brentano baut ihnen eine illusionäre Philosophenbrücke. Man frägt jetzt nicht mehr: durch welche Taten des Künstlers wird ein Gegenstand schön? Das „machende“ Ich ist ja doch voll widergöttlicher Gefahren und daher tabu. Es ist gefährlich, das Schöne an menschlichen oder göttlichen Kunstwerken (z. B. als „Welt“) zu erfragen. „Werke“ sind immer böse „Machen“-schaften. Ergo hat das ästhetisch Erhebende wesenhaft überhaupt nichts mit dem Kunst-Werk zu tun. Man dispensiert sich auf solche honette Weise von der Schöpfer-Frage. Der „Phänomenologe“ ist kurzerhand reines schauendes Bewusstsein. Das Geschaute ist denn auch danach: nämlich nichts als die wiederholende Beschauung alter Vorstellungen. Es ist ein keckes Unternehmen, das Schöne aus der Ästhetik hinauszupraktizieren. Man nimmt diese Ästhetik zur Kenntnis und – versteht. Doch sollten sich die akademischen Theoretiker gelegentlich bei Malern vergewissern, dass das Urteil „Schön!“ – noch immer – das entscheidende Kriterium ist. Zwei Maler, der eine meinetwegen aus Stockholm, der andere aus Madrid, begegnen sich in der Bildergalerie einer modernen Weltstadt. Gelangweilt schlendern sie durch die endlosen Säle. Da plötzlich geschieht es, sie bleiben irgendwo stehen und sagen ohne Verabredung: „Schön!“, sonst nichts. Sie blicken sich an – und jetzt findet eine der ganz seltenen Begegnungen von Menschengeist zu Menschengeist statt – in Wirklichkeit und Gegenwart.
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Im vollen Ernste erfragen wir das Wirkliche der Geschichte als ein Schönes. Solches Schöne wäre – trotz Israel – gestaltetes Bild des wirkend Wirklichen, nicht „gemacht“ im „Innen“, sondern empfangen am „Außen“, wäre Neubildung kraft Schöpfung. Derartige schöpferische Neu-Bildungen sind von grundsätzlich anderer Struktur als die „Machen“-schaften, durch die fort und fort jene Neuheiten entstehen, von denen wir Tag für Tag in der Zeitung lesen. Die in der Zeitung gemeldeten „Machen“-schaften geschehen nach dem Motto „Männer machen Geschichte“, doch gibt es auch (wie das Kapital) entpersönlichte Macht-schaft. Wie bringen wir an der fragwürdigen Zeitungsgeschichte die Unterscheidung von „Machen“ und „Empfangen“ zur fruchtbaren Bewährung? Indem wir die 500-Jahrfeier des Geschehens von St. Jakob an der Birs begehen, besteht unser wirklichkeitsloses „Machen“ in der Prätention, innerhalb der fortwirkenden Kontinuität der Kraft von St. Jakob 1444 zu stehen. Das ist die wirklichkeitsferne Illusion des „Machens“. Da ist kein „Empfangen“ und der Schöpfer fern.
Zur Veranschaulichung des Verhältnisses von „Machen“ und „Empfangen“ diene der – Kupferstich. Die druckfertige Platte repräsentiert den „Macher“. Doch das Schöne als ins Dasein tretende Wirklichkeit ereignet sich erst, wenn dem „Macher“ das engelreine Papier in vollendeter Selbstlosigkeit entgegenkommt. Die Reinheit des selbstlos resignierenden Papiers – als Nichts – repräsentiert den Schöpfer, der empfangen wird. (Warum sind vergilbende alte Kupferstiche widerlich? Weil das Papier etwas tut, das es nicht tun soll: es macht sich bemerklich, es resigniert nicht. Alte Originalkupferstiche, wegen ihres Wertes hochgeschätzt, würden erst dadurch wieder schön, dass sie neu auf selbstlos engelreinem Papier erscheinen.) Ein Entscheidendes ist zu beachten: Es besteht zwischen Druckplatte und Papier kein anderes Verhältnis als das des puren Nebeneinander. Nicht der „Macher“ schafft das Schöne, es entspringt und ereignet sich aus dem puren Nebeneinander des „Machens“ und des „Empfangens“.
So auch in der Geschichte. Das Papier, auf dem unsere St. Jakobsfeier als „Machen“-schaft erscheint, ist nicht ganz engelrein. Unsere Illusionen sind auch nicht ausradiert. So fragen wir denn nach dem engelreinen Nichts, auf dem das Bild des Wirkers der Geschichte erscheinen soll. Das Nichts ist die Vernichtung unserer Illusion, damit das Bild erscheinen kann. Wir sind jetzt im Nichts und erwarten den Zu-Fall von außen. Das Bild wird den abstrakten Inhalt haben: Hoffnungsloser Kampf gegen Übermacht. Jetzt will sich das Bild mit Anschauungsinhalt erfüllen. Wir entlassen von St. Jakob bei Basel unseren geistigen Blick rheinabwärts nach Norden. Gegen unser heftigstes Sträuben müssen wir es zulassen, dass dort der Schöpfer – im Jahre 1944 – auf das pure Nichts unseres von jedem Urteil absehenden Geistes ein erschütterndes Bild malt. Es ist unser eigenes Bild, das wir bei der St. Jakobsfeier noch nicht zu sehen bekommen. Unser eigenes Bild – außen – als Wirklichkeit und Gegenwart zeigt: Verzweiflungskampf gegen Untergang. Möglich, dass wir dieses unser Bildnis in einigen Jahren sehen lernen werden – – –
So wäre das Wirkliche in der Geschichte ein Schönes, das den Schöpfer und Wirker der Geschichte zeigen will?
Ein Aufsatz aus dem Kriegsjahr 1944 – ein konkreter Anlass oder Auftrag ist nicht bekannt. Der Text ist postum im Verlag Fornasella zusammen mit anderen Texten unter dem Titel „Der Macher bin ich – den Schöpfer empfange ich“ veröffentlicht (Zweitausgabe 1978).
Zum Geschehen bei St. Jakob vgl.: „Man tanzt nicht, wenn im Nachbarhaus der Tod umgeht“. Die 500-Jahrfeier der Schlacht bei St. Jakob an der Birs, in: Werner Meyer (Hg.), Ereignis – Mythos – Deutung. Die Schlacht bei St. Jakob an der Birs 1444–1994, Basel 1994, S. 179–218.
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