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Lamone, 5. März 1950 Liebe Agnese! Heute habe ich Muße, mich mit Deinem Brief vom 20. 2. zu befassen … (…) Und da muss ich zunächst eine wichtige Feststellung treffen in Bezug auf SCHILLER. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung sind eine Ethik und sind bei der Diskussion über Kunst und Kunstschaffen überhaupt nicht zu gebrauchen. Man soll sich durch Schillers Verwendung des Wortes und Begriffes „ästhetisch“ nicht irreleiten lassen. Schiller untersucht in seiner als Ästhetik aufgezogenen Ethik, wie sich die Menschen zwischen zwei Notwendigkeiten durchschlängeln können. Von außen her nämlich unterliegen die Menschen der Nötigung durch die Sinneseindrücke, von innen nötigen sie sich selber durch ihre Gescheitheit – oder, wie Schiller sagt, durch die Vernunft, wobei Schiller, wenn er „Vernunft“ sagt, an Kant denkt und an Kants berühmten „kategorischen Imperativ“, der im Sinne Kants ein „vernünftiges Sittengesetz“ von allgemeiner Gültigkeit sein soll. Schiller will die doppelte Nötigung überwinden durch einen Zustand der „Freiheit“, durch den „ästhetischen“ Zustand. Indem der Mensch sich in den ästhetischen Zustand versetzt, erfolgt so eine Art Versöhnungsfeier zwischen den beiden im Menschen wirkenden Nötigungen. – Man kann nun ohne weiteres zugeben, dass dieser Schillersche Ansatz zur Ethik sehr bedeutend ist – weil ja tatsächlich jedes lebendige sittliche Verhalten immer nur ein tänzelndes Sichdurchschlängeln sein kann zwischen den Nötigungen von außen (durch liebe Mitmenschen) und den Nötigungen von innen, denen man sich selber, meistens aus hohem Idealismus, unterwirft. Aber als Maler sage ich zugleich: Man bleibe mir um Gottes willen weit weg vom Leibe mit diesem Schiller, wenn es um Malerei geht. Ich muss mir einfach verbitten, von Schiller belehrt zu werden, mein Auge werde „genötigt“, indem ich die äußere Welt ansehe. Was Schiller nicht weiß, ist dieses: Das Auge steht nicht im Dienst eines idealen Innenlebens, ist nicht der Gegenpol zu einem Innenleben, sondern das Auge ist selbst ein ganzer totaler Jemand. Das Auge ist seinem Wesen nach befähigt, das natürliche Sinnliche unmittelbar als Geist zu sehen. Und sofern das Auge dieses Können beherrscht, kann Kunst entstehen. Davon hat Schiller und hat der ganze „deutsche Idealismus“ keinen blassen Schimmer einer Ahnung. Der Maler hat einfach ganz Auge zu sein, sonst spinnt er. Die Kriterien des Schönen liegen bei der Malerei immer und restlos im sinnlich Sichtbaren, und diese Kriterien haben mit der ehrenwerten Ethik Schillers nichts zu tun. Und nun noch eine zweite Feststellung. Du schreibst von der „Idee des Apfelbaums“ – aber diese Idee des Apfelbaums ist ein Spuk, so etwas gibt es überhaupt nicht. Der Idealismus meint die Dinge der Welt auf Ideen zurückführen zu sollen, die Ideen sollen der Ursprung der Dinge sein. Wenn es eine „Idee des Apfelbaums“ gäbe, dann müsste es ja auch die „Idee Goethe“ oder die „Idee Schiller“ geben. Man müsste dann nur noch wissen, wo das Gehirn ist, das die „Idee Goethe“ denkt und wie es zugeht, dass aus einem Gedanken ein wirklicher Mensch wird. Nein, die „Idee Goethe“, das ist eben der Goethe selbst, der physische Goethe mit Haut und Haar. Anthroposophie unterscheidet sich dadurch von allem lieblichen Idealismus, dass ihr Ordnungsprinzip nicht die Idee ist, sondern der wirkliche physische Mensch. Das erste im Universum ist nicht die Idee, sondern der leibhaftige physische Mensch, der „Urmensch“. Wenn der Urmensch plausibel machen kann, dass er als physische Wirklichkeit GEIST ist, dann wollen wir von Geist reden, sonst nicht. Alles andere Gerede vom Geist ist eben doch nur antiquierter tantenhafter „Idealismus“. Und dieser tantenhafte Idealismus hat die Ästhetik verdorben. In der Malerei wird das Schöne – als ein sinnlich sichtbares – vom AUGE beurteilt und von niemand sonst. Der Idealist Schiller versteht von Malerei ebensowenig wie er von Anthroposophie versteht. Anthroposophie ist nicht IDEALISMUS, sondern SENSUALISMUS. Und nun, liebe Agnese, lass Dir von meiner rabbia nicht imponieren. Herzlich grüßend Karl Ballmer
ErläuterungMit der befreundeten, wesentlich jüngeren Briefempfängerin Agnes Kern korrespondierte Ballmer in den Jahren 1950–1952 recht häufig, sowohl zu ganz privaten Ereignissen, insbesondere aber auch zu kunsttheoretischen und philosophischen Fragestellungen. Diese Briefe sind mittlerweile in unserm Band „Letzte Geheimnisse“Letzte Geheimnisse veröffentlicht. Zur These „Das Auge ist seinem Wesen nach befähigt, das natürliche Sinnliche unmittelbar als Geist zu sehen.“ siehe ausführlich die Ehrung – des Philosophen SchmalenbachEhrung – des Philosophen Herman Schmalenbach. 👉 Aus der „gekrachten SchubladeDie gekrachte Schublade“ bekommen Sie wechselnd verschiedene Texte von Karl Ballmer zu lesen. Bei der Auswahl gilt das Motto von Rudolf Steiner: „Es muss der Zufall in seine Rechte treten.“ Besuchen Sie diese Seite also öfter. Bei Fragen kontaktierenKontakt/Impressum Edition LGC Sie uns bitte.⇑ |