„Der letzte Gott“ | Die gekrachte Schublade – 24. Juni 2025 ![]() |
Den 21. Juni 1933
An die Verfasserin des Buches
„Der letzte Gott“
Rosa Mayreder.
Verehrte Frau! Das Buch „Der letzte Gott“ gelangte am 20. Dezember 1932 in meinen Besitz. Die Lektüre in den folgenden Tagen war für mich dann ein tief bewegendes Weihnachtserlebnis. Der damals gefasste Vorsatz, an die Verfasserin zu schreiben, wurde bisher nicht ausgeführt. Heute, bei einer erneuten Durchsicht des Buches finde ich die Stärke des ersten Eindruckes bestätigt und bewahrt. Was mich auch heute bei dem Durchdenken Ihrer Gedanken tief bewegt, ist die beglückende Gewissheit, dass das große Erbe des 19. Jahrhunderts doch nicht – worauf so manches in dieser Zeit deuten könnte – vertan, sondern lebendig ist. Ich meine als dieses Erbe das legitime und verantwortliche Fragestellen aus der für das Ende des 19. Jahrhunderts repräsentativen Intelligenz an die mancherlei Aspirationen der Gegenwart. Wie vieles in dieser Gegenwart scheint doch darauf angelegt, den Frage-Ernst und die Frage-Kompetenz zu korrumpieren, um sich mit desto leichteren Antworten zu begnügen. In der Korrumpierung großer überlieferter Fragestellungen sehe ich recht ein Kennzeichen gegenwärtiger Weltanschauungsbemühungen. –
Das eigentliche Problem Ihres Buches finde ich am entschiedensten auf S. 156 angedeutet. Hier bilden Sie den Gedanken der höheren Bestimmung des Menschen und sprechen von dem „überzeitlichen und überrealen Menschen als Idee“. Dieser Gedanke verweist auf die entschiedenste Krisis des „Idealismus“ als der höchsten Errungenschaft des Abendlandes seit Plato und Aristoteles.
Unter allen denkmöglichen Ideen nimmt die Idee des „überzeitlichen und überrealen“ oder schlechthin die Idee des Menschen eine Sonderstellung ein: sie ist in Wahrheit nicht vorhanden, solange sie nicht als realisierte in der Wirklichkeit erscheint. In unserer Zeit wird endgültig offenbar, dass die Idee allgemein für den modernen, auf sich selbst gestellten Menschen nicht im Platonischen Sinn eine außermenschliche objektive Weltrealität ist, dass sie vielmehr das, was sie ist, durch den wirklichen existenten Menschen ist. Die Idee ist auch nicht, wie Plato annimmt, dasjenige, was durch die Erscheinungswelt verhüllt und korrumpiert ist. Vielmehr Platons Begriff des Menschen ist unzulänglich, indem er nicht begreift, dass die einheitliche Wirklichkeit nur im Menschen sich spaltet in Erscheinung und Idee. Es besteht keine Veranlassung, in einem außermenschlichen Prinzip die Vereinigung von sinnlicher Erscheinung und Idee zu suchen, wie dies Plato (und noch die gegenwärtige agnostische Physik) anstrebt. Zu dieser Grundeinsicht war Goethe gelangt. – Aristoteles hatte wenigstens – gegen Platon – den entschiedensten und notwendigen Zusammenhang von Erscheinung und Idee eingesehen. Thomas von Aquino ist ihm auf diesem Wege gefolgt und wurde dadurch zum vorläufigen Bewahrer der Ansprüche des Menschen, Prinzip der Auseinanderfaltung des Weltwesens in Erscheinung und Idee zu sein. Von Thomas von Aquino wird unsere Gegenwart dieses Problem in voller Verantwortung übernehmen, aber sie wird aus dem Gottesproblem des scholastischen Lehrers das Problem des Urwesens der Welt gewinnen, und wird, in Übernahme der esoterischen Grundeinsicht des Orients, als dieses Urwesen die Identität von „Mensch“ und Welt wissen. Das Urwesen kann aber in der gegenwärtigen Epoche – auf dem Kulturboden des Christentums – nur in der Frage gesucht werden: inwiefern ist die Realisierung der „überzeitlichen und überrealen Idee Mensch“ identisch mit Christus.
Problem der Gegenwart ist die Möglichkeit der Selbstverwirklichung der Idee Mensch. Gegenüber dieser neuen Idee ist der bisherige „Mensch“ als ordnender „Vollender der Natur“ der „letzte Gott“, der letzte mögliche Gott. Ich bejahe voll Ihre Auffassung (S. 156), dass ein Mensch, der als Geist nur Werkzeug einer „höheren Geisterwelt“ wäre, für uns unannehmbar und „überflüssig“ ist.
Neben den Motiven des Dankes für Ihre Bewahrung der Fragestellungen des 19. Jahrhunderts, die mich zu diesem Briefe veranlassen, sind es außerdem noch besondere Motive: Mein Schicksal hat mich im Jahre 1917 mit Rudolf Steiner zusammengeführt und meine gegenwärtige Existenz oder Nichtexistenz wurde durch diese Begegnung entschieden. Ich war damals 26 Jahre alt und Kunstmaler. Als eigenverantwortlicher Kopf musste ich mir, nach einem anderthalbjährigen Aufenthalt in Dornach bald die Aufgabe stellen, durch umfassendes Studium der Philosophie zu einem selbständigen Urteil über Steiner und Anthroposophie zu kommen. Ich habe dieses Studium – beginnend mit Eduard von Hartmann – ausgiebig betrieben und versuchte erstmals 1928 eine Interpretation des „Ereignisses Rudolf Steiner“, die vor den Kriterien des philosophischen Gedankens Bestand haben sollte. Außer ein wenig Respekt hat mir dieser Versuch bisher von Seiten der Anthroposophenschaft wenig Gegenliebe eingetragen. Meine dauernden Bemühungen (neben meiner Tätigkeit als „moderner“ Maler, worin ich es zu einigem Ansehen gebracht habe) sind ein Ringen um die Form einer Darstellung dessen, was ich als das „Ereignis Rudolf Steiner“ bezeichne. In diesem Bemühen komme ich in Fühlung u.a. mit der Theologie. Ich suche in den Vertretern der Theologie, die heute vielfach geistvolle Leute sind, die Bewahrer jener großen abendländischen Tradition, die allein radikale und letzte Fragestellungen an Steiner ermöglicht.
(…)
Meine genannten literarischen Versuche sind enthalten in einer von mir herausgebrachten Zeitschrift (die es bis auf Nummer 5 gebracht hat, und bereits 1930 resignieren musste) „Rudolf Steiner-Blätter“, die Ihnen zur Verfügung steht.
(…)
Rosa Mayreder
Wien IV., Schönburggasse 15
28. Juni 1933
Sehr geehrter Herr!
Ihre Zuschrift ist eine freudige Überraschung für mich. Die bisherige Laufbahn meines Buches hatte schon den Eindruck bei mir erweckt, als seien dessen Probleme nicht mehr zeitgemäß, weil die Menschen der Gegenwart viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt sind. Nun bestätigen und ergreifen Sie gerade jene Ideen, die mir besonders am Herzen liegen. Deshalb wäre ich sehr gerne bereit, mit Ihnen in Verbindung zu bleiben. Nur würde ich Sie bitten, bezüglich Rudolf Steiner direkte Fragen an mich zu stellen. Ist es seine Persönlichkeit, über die Sie mehr von mir zu erfahren wünschen? Ich war in Jugendzeiten eng mit ihm befreundet, ehe er sich der Theosophie, deren entschiedener Gegner er damals war, zuwandte.
Seien Sie aus geistiger Nähe herzlich gegrüßt von Ihrer ergebenen
Rosa Mayreder
Rosa Mayreder war mit Rudolf Steiner befreundet. Ballmer schreibt zu ihrem Buch und zu seinem Brief später (an Werner Teichert, am 8. August 1947): „Das Buch ist unverkennbar eine Art summarischer Abrechnung mit R.St., dessen Name in dem Buche nicht genannt wird. Die Sache hat mich damals – in Anbetracht des Vorwortes S. VI der Erstausgabe von ‘Das Christentum als mystische Tatsache’ – sehr bewegt. […] Weitere Briefe zwischen Frau M. und mir wurden nicht gewechselt; ich war dummerweise nicht der Mann, um Frau M. nun einfach über R.St. – auszufragen.“ – Das genannte Vorwort ist im Zusammenhang mit Ballmers Brief unbedingt lesenswert; dass Steiner sein Buch unter anderem Mayreder namentlich widmet, erscheint dabei als Außenseite von inneren Zusammenhängen.
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