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Erich Brock: Wer regiert Bienenstock und Ameisenhaufen?

(Addendum„Addenda“ zu den Büchern zu: Briefwechsel über die motorischen Nerven)

Aus der Tageszeitung „Die Tat“ (Zürich), 12. August 1956. Ballmer reagiert darauf mit seinem Brief vom 14. August (Buchseite 168f).

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Organisiertes Gemeinschaftsleben unter Tieren

Je tiefer man in die Erkenntnis der Natur eindringt, desto weniger kann man, will man überhaupt über die Einzelheiten hinausschauen, sich enthalten, für ihre zahllosen, tiefgreifenden Sinnelemente eine Art von prästabilierter Harmonie anzunehmen. Die Eingespieltheit der Naturvorgänge aufeinander, vermöge deren sie trotz ihrer Unabsehbarkeit und Gegensätzlichkeit, ein weithin gesetzliches Ganzes ergeben, ist nicht selbstverständlich. Selbst wenn wir in der organischen Welt ein weitgehendes Sich-einander-Anpassen der Wesen und ihrer Verrichtungen annehmen, so bedeutet ja schon die Fähigkeit und Möglichkeit zu solchen Anpassungen im Grunde dasselbe Problem. Ebenso besteht von vornherein eine gewisse Harmonie zwischen unserer beherrschenden Erkenntnis und den Naturvorgängen, näher besonders zwischen Mathematik und Physik. Überall stoßen wir da zuletzt auf eine irgendwie gegenseitige Angelegtheit verschiedenartiger Abläufe. Es handelt sich dabei natürlich nicht um einen Einklang, der irgendeine Art von Auseinandersetzung, Kampf, Widerstreit, ja Sichverfehlen ausschlösse; sondern um einen, der nur greifbar wird gerade durch diese Auseinandersetzung, diesen Kampf hindurch, und auf Grund davon.

Höchstorganisierte Gesellschaften

Es ist fruchtbar, dieses Problem im Gebiete der Biologie einmal nicht nur zwischen den Organismen und ihrer dinglichen Umwelt, zwischen den Trägern einer „Landschaft“ aufzuwerfen, sondern innerhalb ihrer Gesellschaften. Dazu wendet man sich zweckmäßigerweise an die höchstorganisierten Gesellschaften, die der Bienen, Ameisen und Termiten. Es gibt wohl auch sonst gut durchgebildete Tier-Gesellschaften: außer Dauerherden auch Schlaf-, Winterschlaf-, Sammel-, Paarungs-, Laich-, Wander- und Jagd-Gemeinschaften; diese letzteren technisch oft besonders fein ausgebaut. Aber jene staatenbildenden Kerbtiere sind zugleich diejenigen, bei welchen fast allein systematisch gearbeitet wird, wodurch natürlich ein starkes Bedürfnis nach Verständigung und gegenseitiger Abstimmung eintritt. Bei höheren Tieren gibt es wohl nur bei den Bibern Vergleichbares. Das Fällen der Bäume, unter genauester Berechnung der Fallrichtung, die laufende, oft viele Jahrhunderte fortgesetzte Ausbesserung der Dämme, alles aus dem Bedürfnis entstanden, die Wohnbauten in Stauwasser zu errichten, ist durchwegs Gemeinschaftsarbeit – die übrigens von Weibchen geleitet wird.

Der Verstand der Bienen und Ameisen wird heute nicht übermäßig hoch veranschlagt. Sie verfügen über ein gutes Erinnerungs-, Einprägungs- und Lernvermögen. Sie können individuelle Lagen im Maße ihrer Lebensnotwendigkeiten beurteilen. Eine weitergehende Fähigkeit zur Verknüpfung der anfallenden Sinneseindrücke ist nicht da. Man hat für Ameisen ein Nahrungsstück ein wenig über dem Boden befestigt; sie reckten sich verzweifelt darnach, kamen aber nicht auf die einfache Idee, den Untergrund durch Erdbröckelchen hinlänglich zu erhöhen. Dabei sind sie ja in Erdbewegungen und Bauten sonst geschickt und tüchtig. Ein Menschenaffe hätte den Ausweg rasch gefunden. Die staunenswerte Raumorientierung der Bienen und Ameisen beruht nicht auf einem Elementarsinn wie bei Zugvögeln und heimfindenden Hunden, sondern auf Einprägung von Geländemarken sowie auf Ausrichtung nach dem Sonnenstand und den polarisierten Lichtstrahlen, die oft verwickelte Umsetzungen der Sinnesdaten erfordert. All dies ist wohl rein instinktiv – muss zwar auch zunächst eingeübt werden, wird aber doch im wesentlichen fertig vererbt.

Instinkt ist natürlich auch nur ein Wort, das mehr Probleme aufgibt als löst. Für unsere Fragestellung handelt es sich jedoch um Leistungen, die Entscheidungen in mehr oder minder zugespitzten Lagen erfordern, welche grundsätzlich über die Möglichkeiten des Instinkts hinausgehen. Es sind solche Lagen, welche nicht nur das Einzelwesen betreffen, sondern die zur Entscheidung einen Überblick über die augenblickliche Lage der gesamten Gemeinschaft erfordern. Wie der Weg zur Beute oder heimwärts zu finden sei, oder wie eine unbekanntere Blüte anzugehen, ein abzubeförderndes Beutetier anzupacken sei, diese Aufgaben mag der Instinkt wohl auf nicht wunderbarere Weise lösen als bei anderen Tieren. Was hier jedoch einzigartig ist, das ist die Rücksichtnahme auf eine überaus umfangreiche und komplizierte Gemeinschaft – sie kann bei bestimmten Ameisen und Termiten mehrere Millionen Einzelwesen umfassen – und deren Interessen und Notwendigkeiten.

Die Bestimmung des Handelns durch den Staatsgesichtspunkt nimmt hier einen überragenden Raum ein. Wo nun die Gemeinschaftsarbeit nach längst festgelegten Schematen weiter funktioniert, da mögen wir immer noch dem Instinkt zur Erklärung die überwiegende Rolle einräumen. Aber es bleiben nicht schematisierbare Bezirke übrig, wo die Arbeit von Stunde zu Stunde neu organisiert und disponiert werden muss, wo sich immer wieder mehrere einander ausschließende Möglichkeiten auferlegen, zwischen denen, auch für andere verbindlich, gewählt werden muss. Es handelt sich da um dringlichste Arbeiten, die keineswegs immer dieselben und keineswegs dem Belieben des Einzelwesens überlassen sind. Bestimmte Ablösungen sind vorzunehmen, Hilfsgruppen sind an bestimmte Stellen auszusenden, zur Bewältigung größerer Lasten sind Stafetten zu organisieren, Umbettungen der Brut sind je nach Wechsel der Temperatur und Feuchtigkeit vorzunehmen. Am wichtigsten ist die Zuteilung der einzelnen Tiere an bestimmte Arbeitsaufgaben. Zum Innendienst gehört Brutpflege, Ausbau des Nestes, seine Lüftung, Erwärmung und Säuberung, Fortschaffung der Leichen und der Abfälle aller Art, Unterbringung der anfallenden und Verwaltung der vorhandenen Nahrungsmittelvorräte, bei den Ameisen noch Pflege der Pilzgärten und der Haustiere, bei den Termiten Beaufsichtigung und Antreibung der Arbeiter. Zum Außendienst gehört Aufsuchung und Heranschaffung der Nahrungsmittel, Abwehr von Angriffen und Ausführung eigener Angriffe auf verfeindete Staaten. Welche Organisationsarbeit gehört, da schon zur Verteidigung: Verteilung der Streitkräfte, Abtransport der Larven in die geschütztesten Teile des Baus – und zwar muss es da geschwind und geordnet zugehen!

Verstand und Willen

Zur Brutpflege gehört noch die ungemein wichtige Organisierung und Rationierung für die Aufzucht der verschiedenen Funktionäre. Irgendwo muss entschieden werden, je wieviel Königinnen, Arbeiter, Soldaten, Männchen herangebildet werden sollen, je nach der Lage des Staates – Verhältnisse, die durch Nahrung und Unterbringung beeinflusst werden können. Es müssen immer einige Königinnen in Reserve sein, da ohne Königin der Staat zugrunde geht; mehr als eine duldet er aber nicht, so dass die überflüssigen, soweit sie nicht ausziehen, von Zeit zu Zeit getötet weiden müssen. (Überhaupt wird in diesen Staaten jedes überflüssige oder aufsässige Tier liquidiert; so besonders die Männchen, wenn sie die allein von ihnen erwartete Funktion vollzogen haben.) Abgesehen von einer gewissen Rolle persönlicher Gestimmtheit und Wahl ist die besondere Berufsausübung Sache des Lebensalters, so dass jedes Tier in geregeltem Turnus nach und nach alle Berufe ausübt, mit Ausnahme dessen der Königin und stellenweise dessen der besonders organisierten Soldaten. In zeitlicher Entsprechung zu diesem Turnus bilden sich bei Bienen die Drüsen der Nahrungsabgabe an die Larven, der Wachsabscheidung für die Waben und der Honigkonservierung mittels Ameisensäure aus, während die nicht mehr nötigen verkümmern.

Diese Drüsenentwicklung scheint nun aber sehr weitgehend dem Verstande und Willen zu unterliegen. Auch die Königin scheint nach ihrer Einsicht ins Gesamtwohl entweder Männchen oder Weibchen zeugen zu können. Damit ein Mangelberuf wieder voll besetzt werden kann, können die Drüsen des nächsten Stadiums zurückgehalten und bereits verkümmerte des früheren Stadiums wieder in Tätigkeit versetzt werden, ja sogar der von vornherein verkümmerte Geschlechtsapparat der Arbeiterinnen nötigenfalls zum Eierlegen gebracht weiden. Wenn diese Umstimmungen im Bedarfsfall nicht laufend, je nach der Lage vorgenommen weiden – es kann z. B. infolge des Wetters eine plötzliche außerordentliche Honigtracht anfallen, was rasche Sammel- und Bautätigkeit verlangt, oder es kann eine große Anzahl von Tieren gewaltsam zugrunde gehen – so arbeitet eine Gruppe, die zahlenmäßig ein unsachliches Übergewicht gewonnen hat, allein blindlings weiter, bis der ganze Stock daran zugrunde gegangen ist. Wenn ein Bienenvolk sehr klein geworden ist, werden fremde Eindringlinge, die sonst getötet werden, rezipiert und assimiliert. Wer verschafft den Wächtern die Information, dass nun entgegengesetzt wie sonst zu verfahren sei?

Kriegs- und Raubzüge

Der Außendienst stellt schwierige Organisationsprobleme. Bei den Ameisen handelt es sich besonders um die Feststellung des Freund-Feind-Verhältnisses; welche benachbarten Staaten gelten als befreundet, welche nicht? Es gibt plötzliche Übergänge von Freundschaft zu Feindschaft zwischen zwei Nestern und umgekehrt, plötzliche Friedensschlüsse nach langem ergebnislosem Krieg oder bei gemeinsamer Bedrohung von dritter Seite. Die Ameisen suchen den Herrschaftsbereich ihres Staates dauernd auszudehnen. Sie unternehmen große Heereszüge, schlagen gewaltige Schlachten, morden fremde Nester aus und rauben die Puppen, welche sie dann für sich zu Sklavenarbeitern heranziehen. Manche Staaten bestehen nur noch aus Soldaten, welche so ausgebildete Angriffswaffen am Munde besitzen, dass sie gar nicht mehr selbst fressen können, sondern sich von ihren Sklaven füttern lassen müssen. Die südamerikanischen Wanderameisen rücken in genau gegliederten Kolonnen vor und vernichten alles, was ihnen in den Weg kommt. (Auch die Raupe des Prozessionsspinners, der sogenannte Heerwurm, marschiert in geordneten Gliedern einher, wobei diese sich nach der Spitze hin regelmäßig verschmälern. Von dort aus gehen die Antriebe zu Stehenbleiben, Weitergehen und Schwenken buchstäblich mit Blitzesschnelle zum weitentfernten Schwanz des Zuges fort.) Große Tierzüge fliehen vor den Wanderameisen her. Die Beute wird auf Straßen abtransportiert, die beiderseits von einer Kette von Wächtern und Verteidigern eingefasst sind. Andere Ameisenarten machen Kriegszüge über ganze Kontinente und vertreiben die andern Arten. Wer plant, beschließt und organisiert alle diese höchst wohlbedachten und wirksamen Aktionen?

Auch bei den Bienen gibt es Raubzüge; das Hauptproblem bildet aber hier das Schwärmen. An einem sorgfältig ausgewählten Sommertage schwärmt die Hälfte eines Stockes mit einer Königin aus; welche Hälfte aber, wer bereitet das vor? Die Königin hängt sich an einen nahen Baum, umgeben von ihren Anhängern. Kundschafter werden ausgesandt um eine neue Wohnung. Sie kommen zurück und berichten über Lage, Sicherheit, Windwinkel, Besonnung, Geruch, Geräumigkeit. Jeder Kundschafter wirbt für seinen Fund. Andere Bienen fliegen hin, um die Berichte nachzuprüfen. Zwei, drei Tage dauert die Erörterung darüber; dann sind sich alle einig und brausen nach der neuen Wohnung davon.

Wer leitet diese Erkundungen, wer entscheidet über ihr Ergebnis? Vorfrage: Wie verständigt man sich in diesen Staaten? Betreffs der Bienen hat man herausgefunden, dass die wichtigste Nachrichtenübermittlung, nämlich über neuaufgefundene Honigquellen, nach folgendem System geschieht. Die glücklichen Finderinnen führen im Stock bestimmte Tänze auf, welche von den Zuschauern nachgemacht werden zum Zeichen des Verständnisses, worauf diese nach und nach, aber einzeln aufbrechen und das neue Feld der Ergiebigkeit auch sicher auffinden. Die Form des Tanzes, seine Geschwindigkeit und Richtung, besagen Genauestes über Entfernung, Richtung (sie wird durch den Winkel zur Sonnenbestrahlung festgelegt) und Ertragsversprechen der neuen Weide. Je nachdem ob der Tanz auf den senkrecht stehenden Waben stattfindet oder auf den waagrechten Anflugsbrettern, wird eine exakte Umprojektion des Bezugssystems der Sonnenstrahlen in das der Schwerkraft vorgenommen. Ähnlich werden wohl die Berichte der Kundschafter beim Schwärmen der Bienen abgelegt. Auch durch Geruchsmarken werden noch wichtige Einzelhinweise gegeben, ferner gelegentlich durch Laute. Bei den Ameisen findet dieses Letztere auch stellenweise statt, mehr noch bei den Termiten – in größtem Maßstab dagegen die Geruchssignalisierung. Die eigentliche Sprache der Ameisen besteht aber in sogenanntem „Betrillern“ mit den Fühlern, und dies abgestuft nach Lebhaftigkeit, Länge der Intervalle und betroffenem Körperteil. Offenbar können damit recht unterschiedsreiche Dinge mitgeteilt werden – da das Leben der Ameisen verwickelter ist, mehr auf persönliche Entscheidung gestellt als das der Bienen, sie überhaupt intelligenter sind als diese. Sie legen ihre Bauten viel angepasster, wandlungsfähiger an und können sich mit neuen Lagen schneller und erfolgreicher auseinandersetzen.

Entschlüsse und Entscheidungen

Werden die Entscheidungen im Staate solcher Tiere vielleicht so getroffen wie etwa in einem Dohlenschwarm, wo ein Tier, das besonders selbstbewusst und überzeugt von der Güte seines Entschlusses ist, sich hinsetzt oder auffliegt und durch eine Art dynamischer Ansteckungswelle die andern in diesen Entschluss hineinreißt – oder aber in der Minderheit bleibt und sich dann dem gegenteiligen Verhalten der andern anschließt? Solches Handeln aus Ansteckung, bei allen Herdentieren die größte Rolle spielend, kommt sicherlich bei den staatenbildenden Insekten auch vor. Diese sind ja keineswegs, wie man zwecks ihrer Vergleichung mit totalitär organisierten Menschen annimmt, reine Automaten, sondern sind sehr heftigen, völlig irrationalen Erregungen zugänglich. Aber als Regel und Grundlage ihrer Entschlüsse sind solche gefühlsmäßigen Wellenschläge auszuschließen. Was aber sonst? Eine zentrale Befehlsgewalt ist zweifellos nicht da. Die Entscheidung auf Grund individueller Neigungen und Einsichten würde bei noch so hoher Anschlagung des Instinkts fürs Kollektive unvergleichlich mehr Intelligenz voraussetzen, als wir es vernünftigerweise können. Was bliebe, wäre die Annahme einer unsichtbaren, unverkörperten, überindividuellen Wesenheit, die alles aufnimmt, verbucht, verarbeitet, leitet. Oder könnte eine solche Wesenheit ihren Sitz in den Einzelwesen haben? Es bedarf keines Wortes, um die Schwierigkeiten auch dieser Annahme als im Letzten unübersteigbar zu zeigen.

Doch lassen sich vielleicht einige Analogien anreihen, die immerhin eine Möglichkeit in dieser Richtung wiesen. Der Anteil von Tieren und Naturmenschen an mancherlei Wissen hellseherischen Charakters, welches später durch die starke Entwicklung des Verstandes, der Bewusstheit und der scharf abgegrenzten Individualität verloren geht, ist hundertfach belegt – so z. B. dass stark auf ihren Herrn bezogene Hunde den Tod desselben durch große Raum- und Zeitenentfernungen wahrnehmen. Die Erscheinung der denkenden und rechnenden Pferde und Hunde ist wohl durch Telepathie und Hellsehen zu erklären. Die Naturvölker haben weithin einen absoluten Lagesinn in Raum und Zeit, welcher an denjenigen der Zugvögel erinnert. Aus der höheren Geisteswelt können wir an mancherlei Hypostasierungen von Menschengemeinschaften denken, etwa an die Idee des Corpus Christi Mysticum – oder an Staaten, welche als Übersubjekt das Individuum moralisch aus Wirklichkeit und Berechtigung hinausdrängen wollen. Auch wer solche Ideen ablehnt, kann sich kaum dem Eindruck entziehen, dass Völker und Staaten als solche Schicksale und Verantwortungen haben, Strafen erleiden, welche in keiner Weise eine Summierung der Schicksale, Verantwortungen und Strafen ihrer Einzelmitglieder bedeuten. Oder denken wir an das Bild eines Dorfes aus früheren Jahrhunderten. Die Häuser wurden von untergeordneten Maurern ohne Gesamtplan nach reiner Zweckmäßigkeit ausgeführt, und noch heute zeigt ein solches Bild von allen Seiten eine harmonische Ganzheit, die unser Auge entzückt, und die wir auch mit den studiertesten Architekten nicht mehr zusammenbringen; bei unsern Werken zerschneiden, zerreißen sich alle Linien gegenseitig, von woher wir sie auch betrachten.

Baum und Tierstaat

Aber lenken wir den Blick auf eine viel näherliegende Analogie. Ein großer Baum hat nach seiner Organisation weit mehr Ähnlichkeit mit einem Ameisenstaat als mit einem Einzeltier. Auch er unterliegt verwickelten Gesamtsituationen mit zahllosen einzeln zu berücksichtigenden Einzelfaktoren, welche z.B. Auswahl der Ernährung aus der Erde, Besonnung, Belüftung, Winddruck, Nachbarbäume und vieles andere betreffen. Die verwickelten und wechselnden Einflüsse von daher müssen unablässig mit ebenso verwickelten Entschlüssen für jeden Ast, jeden Wurzelzweig und noch unendlich kleinere Teile beantwortet werden – Entschlüsse, die dennoch auch in jedem Augenblick zu einem Ganzen zusammengestimmt werden müssen, sowohl im Sinne einheitlichen Handelns gegenüber der Umwelt wie im Sinne der zu wahrenden Formidee des Baumes. Es müssen Entscheidungen getroffen werden, wo Blätter, Blüten, Früchte anzulegen und zu entwickeln sind, wo, in welcher Richtung, bis wohin Zweige hervorsprießen sollen. Diese ungeheure Organisationsarbeit muss irgendwo geleistet werden; ein Nervensystem ist aber weder als zentrales noch als sich durch die Breite des Organismus erstreckendes vorhanden. Glücklich sind die Materialisten, welche dies alles durch Druck, Stoß und Reiz erklären können. Wir andern stehen da vor unlösbaren Rätseln.


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