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Donnerstag, 1. Oktober 1987

„Wie sich Tante Lieschen die Wiederverkörperung vorstellt…“

In der anthroposophischen Zeitschrift Info 3 (Sonderheft 3/1987, Thema Reinkarnation – Ein Versuch, sie durch Anthroposophie zu verstehen) erscheint eine ausführliche Besprechung der im Jahre 1954 von Ballmer veröffentlichten Schrift Elf Briefe über Wiederverkörperung (siehe unsere erweiterte Neuausgabe 2019):

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„Wie sich Tante Lieschen die Wiederverkörperung vorstellt…“

Mit dieser Anmerkung beginnt Karl Ballmer (1891-1958) im Mai/Juni 1953 „Elf Briefe über Wiederverkörperung“ (Fornasella-Verlag, Besazio) an den schonend immer nur ‘Dr. L.’ genannten Autor des Aufsatzes „Über die Bedeutung der Wiederverkörperungslehre für das Verständnis der Geschichte“ im Mai-Heft des gleiches Jahres der ‘Blätter für Anthroposophie’. „Man kann nicht sagen“, behauptet der Anthroposoph Ballmer, „dass die Menschen (die Meier, Müller, Huber, Schiller) ‘sich wiederverkörpern’; sondern man muss sagen: in wiederholten Erdenleben sind die Menschen (Meier, Müller, Huber, Schiller) Teilnehmer an den Wiederverkörperungen des (großgeschriebenen) MENSCHEN“.

Ballmer erhebt also Einwände gegen die Vorstellung von ‘sich’ wiederverkörpernden bzw. ‘metamorphosierenden’ Einzelmenschen. „Die Meier, Müller, Huber, Schiller usw.“, erklärt er, seien zu betrachten als „sekundäre Subjekte der Wiederverkörperung“, und auch dies nicht in ihrer Eigenschaft als „unsterbliche Individualitäten“, wie letztere von der „spätbürgerlichchristlichen Selbstgefälligkeit“ vorgestellt werden, die „noch immer geneigt ist, das geschätzte Ich treuliberal zum Gotte aufzuplustern“. Man verwechsle die ‘unsterbliche Individualität’, statt „konsequent ein ‘Geistiges’“ darunter zu verstehen, hartnäckig mit dem „akademisch-vulgären ‘Mensch’“, von dem die ominöse ‘sich’-wiederverkörpernde natürliche Einzelseele abgeleitet werde.

Es ist in Ballmers Denken nicht nur falsch, die Meier, Huber und so weiter als hochgeschätzte bürgerliche Existenzen für die Regisseure ihrer eigenen Wiederverkörperung zu halten; auch auf der nächsthöheren Etage werde der „hochgradige Unsinn“ fortgesetzt, wenn man die ‘höheren Iche’ zu primären Subjekten, also Bewerkstelligern ihrer je eigenen Reinkarnation zurechtdenke. „(Es) werden bei der Behandlung der ‘Metamorphose beim Menschenwesen’ die Meier und die Müller ohne Wimpernzucken als ‘Menschenwesen’ im Sinne von ‘natürlicher Einzelmensch’ vorgestellt, und wird die Selbstmetamorphose des natürlichen Einzelmenschen aus einem Erdenleben in ein folgendes Erdenleben als Anthroposophie aufgetischt.“ Weil ‘Wiederverkörperung’ gleichzusetzen ist mit Weltschöpfung (was Ballmer begründet), sei das primäre Subjekt der Wiederverkörperung folglich der Weltschöpfer, DER (großgeschriebene) MENSCH, den nur die „ganze Unverbindlichkeit einer idealistischen ‘Idee’“ verwechseln könne mit den natürlichen Einzelseelen der Meier, Müller, Huber usw., welche „sich nämlich … in einem bestimmten Zeitpunkte ihres Postmortem-Zustandes auf(lösen)“. Erst als sekundäres, am Weltschöpfungswerk Wiederverkörperung (des Christus) teilnehmendes Subjekt kommt der in Meier, Huber, Schiller und so weiter Wohnung nehmende ‘Geistesmensch’ in Betracht. Dieser aber verdanke sich und seine Wiederkünfte „nicht seinem Ich, auch nicht dem strebenden Bemühen seines Ich, sondern der vorauswirkenden Gnade der ‘menschlichen Gattungswesenheit’, die als ‘der Mensch’ das Subjekt der Wiederverkörperung seines Geistes und seiner Geister ist.“

Der Begriff ‘menschliche Gattungswesenheit’ wird hier anders gefasst, als man es sich im anthroposophischen Sprachgebrauch angewöhnt hat. Ballmer versteht Steiners Mitteilung, jeder Mensch sei ‘seine eigene Gattung’, nicht so, als seien Meier, Müller, Huber usw. je verschiedene Gattungen. Vielmehr verwirkliche sich in jedem Einzelmenschen ‘seine’ Gattung, also DER MENSCH, nämlich Christus. Dies ist die ‘Wiederverkörperung des Geistes’. „Nicht weil man ein so wertvolles und hochgeschätztes Ich ist, sondern einfach sofern man ‘Mensch’ und als ‘Mensch’ ein Geschöpf der ‘menschlichen Gattungswesenheit’ ist, untersteht man als Geist dem Gesetz der Wiederholung und Wiederverkörperung.“ Es gibt keine „treuliberale“ unsterbliche Seele, sondern sie stirbt. Indem aber der Geistesmensch am „Selbstopfer des großgeschriebenen MENSCHEN“ partizipiert, wird ihm die Gnade der ‘Wiedererweckung’ (dies Wort gebraucht Ballmer selbst nicht) zuteil. Indem Christus durch den Tod gegangen ist, vermag dies auch der Mensch, insofern Christus, DER MENSCH, wirk-lich ist. „Es ist, geisteswissenschaftlich gesehen, ein Schwindel, von ‘Seele’ zu sprechen, wenn die Seele nicht der Kraft des Christus verdankt ist.“

Ballmer rüttelt den, wie er findet, „Unverstand“ gewohnheitsanthroposophischen Denkens kräftig durcheinander. Sein Hauptanliegen ist zweifellos die konsequente denkerische (und nicht bloß gemüthafte) Berücksichtigung des Mysteriums von Golgatha bzw. geisteswissenschaftlichen Christusverständnisses im Zusammenhang mit der Reinkarnation. Wer die ‘Briefe’ sorgfältig liest, wird im übrigen finden, dass er als Dreh- und Angelpunkt dieses Christusverständnisses und damit der Reinkarnationsidee die ‘Philosophie der Freiheit’ betrachtet. In typisch Ballmerscher Redeweise heißt es: „Leute von besonderer Unbegabtheit haben … den Schluss gezogen, der Autor der ‘Philosophie der Freiheit’ habe seine Weltanschauung geändert, um die wiederholten Erdenleben zu verkünden. Das ist eintreuherziger Unsinn.“ Da die „geschätzte unsterbliche Seele nicht zum Inventar“ der Philosophie der Freiheit gehöre, habe sie auch im anthroposophischen Reinkarnationsverständnis nichts zu suchen.

Was Ballmer immer wieder als „Schwindel“ brandmarkt, ist die in Haeckelscher Manier „kausierende“ Betrachtung des Wiederverkörperungsgeschehens als irgendwie unsichtbar sich vollziehende, selbsterzeugte Mutation des Herrn Meier in die Frau Huber. Stattdessen soll, und sei der Aufprall an der Grenze unseres gewohnten Denkens noch so hart, endlich ernst genommen werden, dass der „natürliche Einzelmensch“ (auch der naturalistisch-analogisierend in ein Transzendentes hinübergedachte) in der Tat vollständig verschwindet und dennoch die Reinkarnation eine Tatsache ist. Wie das? Mit Steiner antwortet Ballmer, dass „jede wahre Entwicklungstheorie niemals den Gedanken der Schöpfung aus dem Nichts fallen lassen“ könne. Letztere aber ist gleichbedeutend mit der Christuskraft. Durch Christus wird der Mensch aus dem Nichts wiedererschaffen. Dies wiederum (und hier wird der Zusammenhang mit der Philosophie der Freiheit deutlich) tut der konkret verkörperte Mensch als Teilnehmer am MENSCHEN, indem er es erkennt: „Es gibt genauso viel ‘unsterbliche Seele’, als jetzt und hier von der als Christus-Kraft wirkenden Geisteswissenschaft geschaffen wird.“ An der vielleicht prägnantesten Textstelle der ‘Briefe’ heißt es dementsprechend in außerordentlich erbaulicher Außerkraftsetzung der kausalen Begriffsstruktur: „Ich werde vom MENSCHEN gedacht, also bin ich. Als freier Schöpfer meines ‘Ich’ bin ich die Wirkung und das Geschöpf eines Anderen. Ich muss selbst schöpferisch werden, um mich als Geschöpf zu wissen.“

Ballmers Polemiken zielen (wie auch diejenigen in seiner Arbeit über die motorischen Nerven [1953, Verlag Fornasella]) auf eine Erscheinung innerhalb der geisteswissenschaftlichen Bewegung, die er „akademische Gruppenseele“ nennt. Dieselbe will er „darauf aufmerksam machen, dass sie – schwindelt“. Die Kennzeichnung als ‘Schwindler’ verdient in Ballmers Denken auch ein „ausgewachsener Lizenziat der Theologie“, der „folgenden Bocksgesang“ (Omen est Nomen) ertönen lasse (in „Die Drei“, 8. Jg., S. 344): Rudolf Steiner habe sich der Wiederverkörperungsgedanke der unsterblichen Individualität im Menschenreich so ergeben wie Goethe der Gedanke der Urpflanze im Pflanzenreich. Dies ist für Ballmers dynamische Auffassung des ‘erschaffenden Erkennens’ der Reinkarnation natürlich völlig inakzeptabel. Einem gewissen Dr. P., Verfasser von ‘Goethe in unserer Zeit’ (Dornach 1949) ergeht es nicht viel besser als Emil Bock: „Dr. P. (bietet) den Gedanken an: Ein natürlicher Einzelmensch, als z. B. Schiller, sei die ‘Metamorphose’ eines früheren Einzelmenschen X, indem X und Schiller Verkörperungen einer geistigen Individualität (des ‘Geistesmenschen’ Schiller) sind. Das von X zu Schiller sich hinüber ‘Metamorphosierende’ wird als der ‘verbindende Typus’ bezeichnet. Daraus würde folgern, dass der ‘verbindende Typus’ (also der Geistesmensch Schiller) Weltschöpfer ist. Ich meine mich höflich auszudrucken, wenn ich diesen hochgradigen Unsinn als Schwindel bezeichne.“

Um sich die „fatale Ansicht“ abzugewöhnen, ‘Ich’ sei als natürlicher Einzelmensch die ‘Metamorphose’ des natürlichen Einzelmenschen, der ich in meiner letzten Inkarnation war“, rät Ballmer den Vertretern der akademischen Gruppenseele, sich eine Vorstellung über das mich bezeichnende ‘Ich’ zu erobern und, darauf aufbauend, darüber nachzudenken, wie solches ‘Ich’ die physische Menschengestalt als eine der Verkörperungen der ‘menschlichen Gattungswesenheit’ „an sich tragen“ kann, „oder anders gesagt: wie ich in dem göttlichen Körper des MENSCHEN als Untermieter wohne“. Erneut der Grundgedanke: Nicht ‘ich verkörpere mich wieder’, sondern dadurch, dass die Wiederverkörperung DES MENSCHEN stattfindet, wird mir mein Einzelwesen-Sein zuteil. – Ballmer fragt: „Was tut der Schöpfer?“ und entnimmt der Geisteswissenschaft eine genau formulierte Antwort auf diese Frage: „Ein jegliches Wesen entwickelt sich vom Geschöpf zum Schöpfer“ (Steiner). Hierin sei der wissenschaftlich verbindliche Begriff des Schöpfers zu sehen, obwohl der akademisch verbildete Verstand sich weigere, die Zusammengehörigkeit dieser Frage und dieser Antwort zu akzeptieren. Wenn aber nach dem Tun des Schöpfers gefragt sei, so müsse auch in der Antwort vom Tun des Schöpfers die Rede sein. Auf dieser Überlegung fußend stellt Ballmer der theologischen Gottesspekulation den Gedanken entgegen, „dass ‘der Schöpfer’ eine Eigenschaft der Welt ist – unter dem Gesichtspunkt ‘Entwicklung’“. – „Die anthroposophische Weltanschauung“, fährt er fort, „zeichnet die Weltentwicklung als Anschauung des Objektes ‘Schöpfer’“. Damit sei der Denkfehler des 19. Jahrhunderts, Weltentwicklung und Welterschaffung seien unvereinbare Gegensätze, überwunden. Ist die folgende Passage aus dem Buche ‘Theosophie’ Rudolf Steiners nun, fragt Ballmer, eine Aussage über die Meier, Huber und so weiter oder über die Welt in ihrer Eigenschaft als Schöpfer?: „In einem Leben erscheint der menschliche Geist als Wiederholung seiner selbst mit den Früchten seiner vorigen Erlebnisse in vorhergehenden Lebenslaufen“. – Das primäre Subjekt der Wiederverkörperung ist die Weltentwicklung, d. h. die Identität von Schöpfer und Schöpfung. Dies ist DER MENSCH, an dessen Wiederverkörperungen die ‘Geistesmenschen’ teilnehmen und dadurch auch teilnehmen an der Identität von Schöpfer und Schöpfung. „Die Materialien (der Geisteswissenschaft) lehren, dass auf dem hier in Betracht kommenden Gebiete dem höheren Erkennen die Eigentümlichkeit anhaftet, dass das zu erkennende Objekt vom Erkenner zugleich geschaffen wird“. Oder: „Ein jegliches Wesen entwickelt sich vom Geschöpf zum Schöpfer“ (R. Steiner).

Ballmers Fragen an seinen Briefpartner sind liebevoll-sachlich, zugleich aber auch von einer ungewohnten Schärfe. Er hat wie vielleicht kein Zweiter die Gefahr des „Herumreichens von anthroposophisch klingenden Sätzen“ erlebt und vorausgesehen. Dafür ist er verbannt worden. Es ist weder zu früh noch zu spät, ihn und sein ‘Backöfchen’ (Fornasella) zur Kenntnis zu nehmen. Wobei er es auch denen, die ihn vorurteilslos verstehen wollen, wahrhaftig nicht leicht macht, die Brote sachgemäß herauszunehmen: nicht nur, weil manchmal die Polemik auf Kosten des geduldigen Erklärens geht, sondern auch weil der Sartre-Freund mit diesem gelegentlich in Sachen gehobener Gelehrtensprache ein Spitzenduell ausfechten zu wollen scheint.

Manfred Kannenberg-Rentschler / Henning Köhler


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