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Dienstag, 1. April 2003 „Alles kommt auf so viel an“Roswitha Quadflieg über die Beckett-Tagebücher Hamburg 1936
[Aus der Website von Roswitha Quadflieg / Raamin-Presse] [Originaladresse am 21.10.2003: http://www.raaminpresse.de/Raamin_Aktuell.htm] NACHRICHEN AUS SCHENEFELD / NR. 35FRÜHJAHR 200330 JAHRE RAAMIN-PRESSELiebe Leserin, lieber Leser, Alles kommt auf so viel an, schrieb Samuel Beckett am Abend des 17. Oktober 1936 in Hamburg in sein Tagebuch. Gerade zwei Wochen war er in der Stadt, weitere sieben lagen vor ihm. Er hatte den Abend till nearly 12 im Zimmer seiner Pension mit einem anderen Gast, Namens Martion, im Gespräch über Kolonien und internationale Wirtschaftsbewegung verbracht, ihm – wie sollte es bei Beckett anders sein? - eine Banane geschenkt und den gut gemeinten Rat entgegen genommen, sich im weiteren doch eine Bleibe bei einem Lehrer oder Pfarrer auf dem Lande zu suchen, um noch schneller mit dem Deutschlernen voranzukommen. Perhaps somewhere near Lüneburg would be tolerable. Aber es kam ganz anders... Wie bereits angekündigt erscheint im kommenden Herbst – im 30. Jahr der Raamin-Presse – als dritter Band der „Neuen Reihe“ die Erstausgabe von: SAMUEL BECKETT„ALLES KOMMT AUF SO VIEL AN“Das Hamburg Kapitel aus den „German Diaries“2. Oktober - 4. Dezember 1936.In der Originalfassung (Englisch mit einzelnen deutschen Sätzen). Transkribiert und mit einem Nachwort von Erika Tophoven. Vorweg das Gedicht „Cascando“ in des Autors eigener deutscher Übersetzung. Bilder und Konzeption Roswitha Quadflieg. Der Text wird in der Gill mager 12 Punkt in schwarz gedruckt, graublaue Marginalien aus der Gill 8 Punkt begleiten ihn. Schwarzer Pappband (25 x 36 cm), von etwa 100 Seiten, Prägungen auf beiden Deckeln, eingelegt in eine „Bildermappe“, zwei Leporelli, aufgeblättert je ein Meter lang, an feste Deckel kaschiert. Schuber. Papier Somerset weiß und chamois. Auflage 150 nummerierte und signierte Exemplare. EURO 1.000,- Becketts „German Diaries“ - geschrieben in der Zeit von Oktober 1936 bis April 1937 -, sind bisher nur wenigen bekannt. Zwar beschäftigt sich die Forschung schon seit geraumer Zeit mit ihnen, James Knowlson geht in seiner großen Beckett Biographie ausführlich auf sie ein, aber veröffentlicht wurden sie bisher nicht. Insgesamt neunzehn deutsche Städte, einige von ihnen nur auf Durchreise, besuchte der damals noch unbekannte 30jährige irische Dichter. Sein erster und längster Aufenthalt war Hamburg, gerade ging das Jahr der Olympiade zu Ende. Das wahre Gesicht des Nationalsozialismus zeigte sich immer deutllicher - auch dem Fremden. Am 24. November notierte sich Beckett an official communication der „Reichskulturkammer“ an die Hamburger Malerin Gretchen Wohlwill während seines Besuchs in ihrem Atelier wortwörtlich in sein Tagebuch - Schlußsatz: Ich verbiete Ihnen die berufliche Ausübung der Malerei und Graphik - und kommentierte das andauernde Gerede seiner, ihm von der „Akademischen Auslandsstelle“ zugeteilten „Lotsin“ Claudia Asher: Her Kraft durch Freude conversation kills me. Für die „Stadtschänke“ im Deutschlandhaus, Nähe Dammtorbahnhof, in der er fast täglich eine Mahlzeit einnahm, setzte er die Abkürzung SS ein. So, Englisch mit Deutsch mischend, brachte Beckett vieles in Stichworten auf den Punkt, stellte Wichtiges neben Banales, listete auf: Straßenamen, Kneipen, Speisen – Aalsuppe & Roquefort, Akademischer Teller, Crab soup, Scholle & Nachtisch – Preise. Außerdem sämtliche Bücher, die seine Aufmerksamkeit weckten, die er geliehen bekam oder erwarb. Aber – und das ist das eigentlich Erstaunliche in diesem Tagebuch – auch sämtliche Bilder, die er bei seinen wiederholten Besuchen in der Hamburger Kunsthalle sah, in Privatsammlungen und Ateliers. Zeugnis von einem äußerst ungewöhnlichen Umgang mit bildender Kunst, einer „Sucht“ nach Bildern, enormem Wissen und eigenem Urteil, unabhängig von gängigen Meinungen. Gewiß, Beckett besuchte während seiner neun Wochen in Hamburg auch ein Konzert, eine Theateraufführung, eine Dichterlesung, zwei Vorlesungen des Philosophen und Romanisten Lucien Brulez an der Universität, beriet sich mit etlichen Gesprächspartnern wiederholt über seinen Proust-Essay und seine deutsche Übersetzung des eigenen Gedichts „Cascando“ - in dieser Ausgabe in einer bisher unbekannten Fassung abgedruckt -, und schloß Freundschaft mit einem jungen Buchhändler in der Buchhandlung Kurt Saucke. Das Wesentliche jedoch war die Begegnung mit den Bildern, den „alten“ und „neuen“, und mit sieben Malern der seit 1933 verbotenen „Hamburger Sezession“. Viele Stichworte und Namen in diesem Tagebuch geben zunächst Rätsel auf. So habe ich mich im Lauf der letzten Monate in Archiven, Bibliotheken und vor Ort umgesehen, Gespräche mit Wissenschaftlern, Zeitzeugen, Erben und Nachlaßverwaltern geführt. Menschen und Bücher (wie „Kunst in der Krise“ von Maike Bruhns) wurden Weggefährten. Ein Netz von Informationen, auf dem die Gesamtkomposition meines Buches aufbaut. Die Bilder, ein Versuch, von heute aus - fünfzig Jahre nach der Uraufführung von „Warten auf Godot“ -, einen Blick auf Hamburg 1936 zu werfen, mit beckettschen Requisiten und Versatzstücken ein absurdes Panorama dieser Stadt zu inszenieren. Beckett war ständig unterwegs, auf weiten Rundgängen „erlief“ er sich die Stadt. Um die Alster(n), durch die Altstadt, zu den fünf Hauptkirchen, über die Reeperbahn zu Klopstocks Grab an der Christians Kirche in Altona (damals noch Vorort), von Blankenese zurück zu den Landungsbrücken – über den Ohlsdorfer Friedhof. Meist dogtired kehrte er abends in seine Pension in der Schlüterstrasse 44 zurück, wo sich täglich eine kleine Gruppe zum Supper traf. Wer waren seine Tischgefährten? Beckett skizzierte sie in wenigen Sätzen, notierte sich ihre Nachnamen. Einer von ihnen war a Martion, der Kaufmann lernt und auch so ausssieht, und mit dem er hin und wieder sogar in seinem Zimmer zusammen saß, nicht nur am 17.10., till nearly 12. In der Nähe von Fulda fand ich ihn, Jahrgang 1912, Vorname Franz Peter. „Beckett?“, fragte er am Telefon, „war das nicht ein Heiliger?“ 1936 ist lange her. Er lernte damals bei Charles Lavy & Co, Schlipsbranche, und wurde später Zahnarzt. Frau Fera entpuppte sich als Helene Fera, geboren 1883, eine große Dame der Hamburger Gesellschaft. Sie gehörte zum Vorstand der „Akademischen Auslandsstelle“, hieß Studenten vieler Länder in ihrem Haus, Bellevue 8, willkommen und pflegte mit einigen von ihnen auch noch Jahre nach dem Krieg Kontakt . Auf meine Anfrage hin haben die Enkel in ihrem wohl gehüteten Gästebuch jetzt am 3.12.1936 - unter chinesischen, griechischen, arabischen und lateinischen Eintragungen -, links oben in der Ecke, den Namenszug Samuel Beckett gefunden. Auch über die Hamburger Kunstsammlerin Margrit (Margaritha) Durrieu konnte ich einiges mehr in Erfahrung bringen. In ihrem „Montagssalon“ saß Beckett am 23. November 1936 Modell. Und der junge Buchhändler Albrecht? Er hieß Günter mit Vornamen und ist, 25jährig, 1941 in Russland gefallen. In einer alten Kiste mit seinem Nachlaß wurden vor wenigen Monaten unter vielen anderen zwei Briefe und zwei Postkarten von einem Samuel Beckett entdeckt. Stichworte dieser Recherche werden in den Marginalien meiner Ausgabe nachzulesen sein. Darüber hinaus aber auch die „Trophäen“ der dokumentarischen Ausstellung erläutern, die, wie bereits in den letzten „Nachrichten“ angekündigt, anläßlich des Erscheinens des Buches im Herbst zusammen mit der „Freien Akademie der Künste in Hamburg“ stattfinden soll: "BECKETT IN HAMBURG – 1936“24. November 2003 – 15. Januar 2004.20095 Hamburg, Klosterallee 23Dank großzügiger Leihgeber können in dieser Ausstellung - neben Fotos, Artikeln, Plänen und Büchern - nicht nur zwei bisher unbekannte Briefe und ein sagenhaftes Gästebuch gezeigt werden, sondern auch Bilder der sieben Maler, die Beckett während seines Aufenthalts in Hamburg persönlich kennen lernte. Und zwar jeweils genau die von ihm beschriebenen. Bilder von Friedrich Ahlers-Hestermann, Karl Ballmer, Eduard Bargheer, Paul Bollmann, Willem Grimm, Karl Kluth, Gretchen Wohlwill. Während der Ausstellung sind Lesungen, Film- und Hörspielvorführungen geplant. Gleichzeitig bietet die Hamburger Kunsthalle in ihren Räumen einen Rundgang auf Becketts Spuren. Etliche der von ihm dort gesehenen und aufgelisteten Bilder – insgesamt etwa 150 – werden in der Sammlung als solche gekennzeichnet und, so weit vorhanden, mit entsprechendem Originalzitat versehen sein. Ein großes Projekt insgesamt, das, Dank freundlicher Mitveranstalter, Sponsoren, Ratgeber und Freunde, im 30. Jahr der Raamin-Presse über die Bühne gehen soll. Vielleicht ein Anlaß für Sie, trotz Hundewetter again, wie Beckett mehrfach schrieb, im November 2003 eine Reise nach Hamburg zu wagen, mit den Augen des Dichters durch die Straßen, in die „Freie Akademie der Künste“ und in die Kunsthalle zu gehen. Herzlich grüßt Sie Ihre Roswitha Quadflieg P.S. [...] |