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Montag, 1. Dezember 2003 „Der Mensch ist die Lösung“Anthroposophie in biografischen Porträts
Aus der Zeitschrift Die Drei, Heft 12 / 2003, Seite 54–59 (Auszug) Enno Schmidt Wenn man die Anthroposophie im 20. Jahrhundert an Einzelbiografien aufzeigt, nicht an institutionellen Wandlungen, zeigt das doch schon, dass man noch viel vor hat. Denn Institutionen können sterben, sich überlebt haben, Menschen nicht. Menschen werden immer wieder geboren, immer neue Generationen. Nein, ich meine nicht ihre Reinkarnation, obwohl auch das ein interessanter Aspekt dieses Blickes auf die Biografien wäre. Ich meine die alleinige Wertschätzung des Individuums in seiner Freiheit. Die beschriebenen Menschen sind als Einzelne Ausdruck und Form der Anthroposophie, die selbst kein Programm ist. Indem so alles auf das Individuum übertragen wird und seiner Einzigartigkeit das Vertrauen gilt, ist Zukunft anwesend. Nicht eine Lehre oder große Vorstellung, nicht erreichte Erfolge oder der Verbleib in Nischen ist Anthroposophie, sondern was Einzelne als ihre Biografie gelebt haben. Und in diesem Sinne wird Anthroposophie auch in folgenden Generationen sein, was der Lebensweg und der Wille unterschiedlichster Menschen zeigt und wie sie wirken. Anthroposophie ist keine Vorgabe, kein Konzept. In diesem Blick auf die Biografien der Toten wird der Blick frei für die Freude auf das Leben der Kommenden. 1200 Seiten wiegen schwer, lesen sich aber kurzweilig. Längst nicht alle der 1100 sorgfältig recherchierten Biografien sind im Buch enthalten. Der Gesamtbestand wird demnächst im Internet unter www.kulturimpuls.org einsehbar sein. Im Buch sind es immerhin gut 600, genauer: 624 Biografien. Im Durchschnitt sind sie zwei Seiten lang, enthalten ein bis drei Fotos, die charakterisierend und oft beeindruckend zu der dichten Atmosphäre der Schilderungen beitragen und sie zusätzlich erhellen. 411 Autorinnen und Autoren bilden mit ihren aktuell verfassten Beiträgen das Gesamtwerk; 315 sind damit im Buch vertreten. Auch sie werden mit persönlichen Angaben und einem Foto im Buch vorgestellt. Im Anhang finden sich auch die Übersetzerinnen und Übersetzer fremdsprachiger Originaltexte, wie Christel von Grumbkow oder Jan Pohl. Der Grund, warum es Biografien sind, anhand derer die Anthroposophie im 20. Jahrhundert vorgestellt wird, steht gleich am Anfang des Buches auf Seite 9: »... So sagte ich mir auch: Die ganze Welt, außer dem Menschen, ist ein Rätsel, das eigentliche Welträtsel; und der Mensch ist selbst die Lösung. ... All diese Einsichten schlossen sich mir gerade in der hier geschilderten Lebensepoche mit der erklommenen umfassenden Wahrheit zusammen, dass die Wesen und Vorgänge der Welt nicht in Wahrheit erklärt werden, wenn man das Denken zum ›Erklären‹ gebraucht; sondern wenn man durch das Denken die Vorgänge in dem Zusammenhange zu schauen vermag, in dem das eine das andere erklärt, in dem eines Rätsel, das andere Lösung wird, und der Mensch selbst das Wort für die von ihm wahrgenommene Außenwelt. ...« (Rudolf Steiner, in: »Mein Lebensgang«). Hätte für die Entscheidung, die Anthroposophie anhand von Biografien in Erscheinung treten zu lassen, auch Karl Ballmer (*1881 - †1958) Pate stehen können? Ballmers Haltung wird in seiner Biografie ausführlich von Karen Swassjan beschrieben und zitiert: Es »erschließt sich uns Steiners Werk in dem Maße als authentisch, in dem wir es als Verkünder der Individualität seines Schöpfers aufzufassen vermögen. Ballmers Formel dafür ist: ›Das Ereignis Rudolf Steiner‹ ... ›Ich huldigte einem Wahn, wollte ich glauben, das Studium der Anthroposophie betreiben zu können ohne verantwortliches Darinnenstehen in dem Ereignis.‹ Dieses verantwortliche Darinnenstehen bezeichnet er als: ›Karma- Orientierung der Erkenntnistheorie.‹ ... Wir haben nach Ballmer nicht die geringste Aussicht, Anthroposoph zu werden, solange wir uns vor Steiners Werk wie vor eine Theorie hinstellen in der Absicht, diese nach Belieben ›kreativ‹ zu ergänzen, zu modernisieren oder gar weiterzuentwickeln ... Anthroposoph können wir erst dann werden, wenn wir das Erkenntnisproblem nicht mehr bloß theoretisch, sondern karmisch auffassen und die Erkenntnisleistung Rudolf Steiners als faktische Voraussetzung unseres Anthroposophisch- Werdens wissen. Anthroposophie als Ideenbewegung schlägt solchermaßen in eine Schicksalsbewegung um ...« - Eine Schrift, in der Ballmer 1941 seine Haltung ausführlich darlegte, wurde von Heinrich Leiste in Dornach zur »Anti-Anthroposophie« erklärt und aus dem anthroposophischen Sortiment verbannt. […] Das Buch ist eindringlich und ausgewogen. Es zeigt Individualitäten und entstammt selbst einer individuellen Idee. Es will nicht etwas abschließend in den Griff bekommen, sondern es aus der Betrachtung leben lassen. Es ist eine von vielen Perspektiven und es sind auch nur einige Hundert von Zigtausend Menschen. Gerade darum bleibt das Buch trotz Gewicht erfreulich und leicht, weil es das Ganze über den Einzelnen erreicht. BODO VON PLATO (HG.): Anthroposophie im 20. Jahrhundert. Ein Kulturimpuls in biografischen Portraits. Herausgegeben für die Forschungsstelle Kulturimpuls. Verlag am Goetheanum, Dornach 2003. 1200 Seiten, 69 EUR. Unter dem Titel »Einhundert Jahre Anthroposophie: Pioniere, Grenzgänger und Brückenbauer« sind in der DREI von Januar 2002 bis März 2003 einige im Rahmen dieses Projektes entstandene Biografien bereits im Vorabdruck erschienen. |